Um 9 Uhr wurden wir von Oberst Iljin abgeholt. Fuhren zurück nach Sperenberg; dort stieß noch Major Dumtchev dazu. Gemeinsames Frühstück.
Warteten auf das Flugzeug. Telefonisch wurde mitgeteilt, es sei in der Luft, und wenig später gab es selbst durch lautes Brummen zu verstehen, daß es im Anflug ist.
Verfrachteten das Gepäck in Oberst Iljin's Gasik; Andreas Schölzel, Frau X, der Journalist, Fredy Stach nahmen nebst Oberst I. und dem Fahrer Andrei dortselbst Platz und fuhren zum Flugplatz; Major Dumtchev, M und ich blieben zurück; warteten auf Rückkehr des Gasik, der uns gleichfalls dorthin bringen soll.
Akustisch bekamen wir mit, wie das Flugzeug landete, zu seinem Platz rollte, die Triebwerke abstellte. Der Gasik kam nicht zurück. Warteten. Ich schlug vor, zum Feuerwehrschuppen zu gehen und mit einem der Lastwagen rüberzufahren, da dieses sinnlose Herumstehen auf Dauer fast schon unanständig ist. Major Dumtchev sah das auch so; und wir machten uns auf den Weg.
Auf halbem Wege sahen wir unsern Gasik in Richtung auf unseren verlassenen Standort fahren. Kehrten um. Erfuhren, daß Andreas Schoelzel über die Landung eine ganze Fotoreportage gemacht hat und daß Oberst Iljin ihn zu diesem Zwecke im Gasik herumfahren ließ.
Wir nahmen Platz im Gasik, fuhren los. Die Fahrt ging über einen alten Steinplatten-Reichsautobahnüberrest zum Flugplatz.
Unser Flugzeug hatte bereits das Hinterteil aufgeklappt; mehrere Container standen herum für die Hilfsgüter. Andreas Schoelzel hantierte mit seinen Fotoapparaten herum. In der Nähe stand eine AN-124; laut Major Dumtchev mit doppelt soviel Ladekapazität wie unsere AN-22; aufklappbar vorne und hinten. Ich schaute sie aus der Nähe an; fotografierte mit dem Photoapparat, den man mir in der Diakonie mitgegeben hatte. Im Hintergrund, hundert Meter weiter, begann eine endlose Reihe am Pistenrand abgestellter Hubschrauber.
Unser Quartier an der Rollbahn hatten wir im Feldjäger-Aufenthaltsraum aufgeschlagen. Gen vier herum sollte es losgehen; einer der Offiziere wollte allerdings nicht so recht daran glauben...
Nach Verstauen der angelieferten Pakete blieben zwei Container leer; man beschloß, die mit Milchpulver zu beladen, damit der Frachtraum genutzt wird. Was irgendwie nicht so recht klappte. Gen Abend nochmal zum Abendessen. Mit von der Partie außer Major Dumtchev noch jener Offizier, der einen Abflug zum angegebenen Zeitpunkt für unwahrscheinlich gehalten hatte und dessen Namen ich vergessen habe. Selbiger war, wie sich ergab, der einzige aktive Flieger unter den Offizieren, mit denen wir bis jetzt zu tun hatten; und zwar flog er Transportmaschinen.
Nach dem Abendessen wurden wir von einem Kleinbus – der Oberst Iljin’s Gasik abgelöst hatte – zu unserem Standort zurückgebracht; und dies wurde eine Fahrt mit leichten Hindernissen. Die bislang benutzte Zufahrt war aus irgendwelchen Gründen gesperrt; so daß wir es von einer anderen Seite her versuchen mußten. Vermutlich Start oder Landung; nämlich waren wir ab der gewohnten Zufahrt einfach über die Rollbahn gefahren. Nach längerer Fahrt durch den Wald landeten wir nun wieder auf einer Rollbahn; in niedrigster Höhe donnerte ein Hubschrauber über uns hinweg; endlos lang fuhren wir diese Rollbahn entlang, vorbei an am Rande abgestellten Flugzeugen... Irgendwo wurden wir gestoppt, mußten umkehren. Start oder Landung. Fuhren die ganze Strecke zurück; bogen wieder in den Wald ab... Die ganze Organisation schien mir etwas hausbacken; fragte mich, ob es dabei nicht doch ab und zu zu Kollisionen kommt zwischen startenden oder landenden Flugzeugen und Autos. Angst hatte ich keine; mehr so 'ne belustigte Neugier...
Auf welchem Wege wir letztendlich zu unserem Standort kamen weiß ich nicht mehr; glaub sogar, es war über die inzwischen frei gewordene "alte" Strecke.
An unserem Standort zwischendurch Heulkrampf seitens Frau X, die das alles etwas schwer nahm; der einzige, der eine gewisse humorvolle Neutralität wahrte, war ich selbst; vielleicht noch Andreas Schoelzel.
Der Fernseher wurde eingeschaltet; Moskauer Sender (vermutlich über Satellit). Schewardnadses Rücktrittsankündigung; was mich am meisten überraschte war sein unsauberes und akzentdurchsetztes Russisch. Ja nu; iss ja auch Georgier1...
Um 20 Uhr war die Maschine dann startbereit. Wir gingen an Bord.
Im Laderaum war ich schon vorher gewesen, als das Hinterteil aufgeklappt war; einfach die Rampe hoch gelaufen. Die beiden an der vorderen Querwand aufbewahrten Reservereifen bewundert; ich war sogar versucht gewesen, sie zu photographieren, da es für mich eine gewisse Komik hatte, daß ein Flugzeug Reservereifen mit sich führt. Iss aber an sich nicht komisch; kann schon mal passieren, daß bei der Landung so 'n Ding platzt oder beschädigt wird; und es iss ja wohl nicht unbedingt so, daß an jedem Flugplatz Reservereifen für die Antonov 22 bereitliegen... Auch die hinter der Querwand gelegene Einstiegstür, durch die wir nun in das geheimnisvolle Innere einstiegen, hatte ich bei meinem Besuch über die geöffnete Laderampe gesehen. Manövrierte mich mit meinem Gepäck zwischen der Querwand mit den Reservereifen und den Containern hindurch; bog nach links ab durch eine Tür; weiter durch einen schmalen Gang. Auf einer Bank am Rande dieses Ganges stellten wir unser Gepäck ab; stiegen eine steile Leiter hoch und landeten in einem kleinen Kabuff, in dem Gerümpel und Kleidung herumlag; wie sich herausstellte: direkt hinter der Pilotenkanzel. Auf jeder Seite ein kleines Bullauge. Die Leute von der Besatzung räumten ihr Zeug beiseite; und wir verteilten uns auf den schmalen Bänken an der Vor-und Rückwand dieses Kabuffs. Ich selbst rechts an der hinteren Wand direkt neben der Einstiegsöffnung; mir gegenüber, auf der andern Seite, Andreas Schoelzel.2
Die Motoren oder Turbinen oder wie man's nennen will wurden angelassen. Großer Krach. Rollten los. Der Krach verstärkte sich. Irgendwann waren wir in der Luft. Sehr viel bekam man vom Start nicht mit; das Ding, scheint's, ist hoffnungslos untermotorisiert und steigt sehr flach. Unablässiges ohrenbetäubendes Dröhnen, zu dem sich irgendwann noch Zischen gesellte. Vermutlich dynamischer Druckausgleich; irgendeine Düse an der Rückwand unseres Kabuffs. Einer von der Besatzung kam zwischendurch rüber; mit Hilfe einer Zeitung gelang es ihm, das Zischen zu reduzieren. Bewirtete uns mit Speck und Zwiebeln aus ihrer Marschverpflegung; trank mit A. Schölzel ein Glas Wodka (ich war auch eingeladen; aufgrund meiner - bekannten - Einstellung gegenüber derartiger Flüssigkeiten lehnte ich jedoch dankend ab). Bei dem Krach war an Unterhaltung nicht zu denken. Ich zog Schuhe aus, krümmte mich auf der Bank zusammen; schaffte es gar, zu schlafen (was, bei nüchterner Betrachtung, in meiner Lage neben dem über zwei Meter tiefen Schacht lebensgefährlich war. Viel später, beim Flug von Moskau nach Wien, als vor dem Start eine Stewardeß durch die Reihe lief und nachschaute, ob wir auch alle brav angeschnallt sind, fiel mir diese Situation wieder ein... )
In Twer landeten wir. Das Dröhnen und Zischen setzte aus. Eine Stunde sollten wir uns dort aufhalten. Zollformalitäten. Mit Zollformalitäten war nix Besonderes; unsere Pässe erweckten keinerlei Interesse; wie es mit der Fracht war weiß ich nicht.
Das Besondere an dieser Zwischenlandung hing mit der Tatsache zusammen, daß unsere brave Antonov in Twer stationiert ist und daß die Besatzungsmitglieder dortselbst ihr Zuhause haben. Der Kommandant eröffnete, daß sie die vorgeschriebene maximale Flugzeit abgeflogen haben und daß sie, wie das Gesetz es befiehlt, nun ausruhen müssen. – Eine gewisse Beimischung von Heimtücke war bei der Sache nicht zu übersehen; vor allem, weil sie uns bis zuletzt in dem Glauben belassen hatten, wir hätten in Twer maximal eine Stunde Aufenthalt; und auch die siebzehn Stunden waren a bisserl an den Haaren herbeigezogen. Am Morgen so 'n kleiner Hupfer von dem südlicheren Flugplatz nach Sperenberg; ob sie bei der Beladung der Maschine zugegen sein mußten weiß ich nicht; scheint mir aber nicht sehr wahrscheinlich. Und am Abend zwei Stunden Flug von Berlin nach Twer.
Frau X begann, Skandal zu machen; was mir überflüssig und unsinnig schien. Von vornherein war klar, daß die nicht dazu zu bewegen sind, weiterzufliegen; was soll man da noch zusätzlich die Stimmung vermiesen... Frau X schimpfte mit der Besatzung herum; ich hörte zu, unterhielt mich zwischendurch mit irgendwelchen Uniformierten und mit einem Stadtdeputierten, der zu dieser späten Stunde zufällig am Flugplatz weilte, weil er irgendwelche Hilfsgütersendung (aus Osnabrück, scheint's) in Empfang genommen hatte. Ich sagte ganz offen und sachlich, daß ich einerseits den Eindruck habe, daß die Besatzung falsch spielt; daß ich andererseits aber auch nicht damit einverstanden bin, daß durch dieses Herumgeschimpfe und Herumskandalieren unnötig die Stimmung vermiest wird. Die andern Mitglieder aus unserer Delegation hielten sich infolge fehlender oder mangelnder Russischkenntnisse gänzlich zurück. Der Stadtdeputierte, Jurij Milov3, sollte sich um Unterkunft für uns kümmern.
Frau X weigerte sich zunächst, das Flugzeug zu verlassen; irgendwann waren wir dann doch draußen (wenn ich mich recht erinnere nahm ich einfach mein Gepäck und ging raus; die andern folgten nach). Draußen ging das Geschimpfe weiter. Ein Uniformierter (wie ich später erfuhr: Oberst) trat auf mich zu und bat mich, die Sache in die Hand zu nehmen und die Leute auf die bereitstehenden Autos zu verteilen. Was ganz in meinem Sinn war. Ich schaltete Kommandoton ein; und ein paar Minuten später waren wir unterwegs; ich selbst in einem Gasik zusammen mit jenem Obersten, dessen Fahrer, einem von der Besatzung und dem zwanzigjährigen Journalisten.
Das war meine erste aktive eigenständige Handlung auf dieser Reise, die aber die von Anfang an herrschende Fremdheit zwischen mir und den meisten andern Delegationsmitgliedern zu einer tiefen Kluft anwachsen ließ; was man deutlich spürte: Auf der einen Seite sie, die Deutschen, die diesen Russen doch nur helfen wollen; auf der andern Seite die bösen und undankbaren Russen (und einer von ihnen: ich).
Der Oberst und die andern Uniformierten ihrerseits waren auf die Deutschen nicht eben gut zu sprechen; behandelten sie irgendwie wie lästige Kinder, die sich danebenbenehmen. Unterwegs legte ich dem Obersten nahe, umgehend nach Wolgograd durchzugeben, wann wir dort eintreffen; und er versprach, daß er sich drum kümmert. (was er tatsächlich tat; nur halt etwas daneben. Nach Wolgograd wurde mit sehr großer Verspätung durchgegeben, daß gen 18 Uhr ein Flugzeug aus Chemnitz eintreffen werde...) Atmosphäre zwischen uns kollegial; am Hotel verabschiedete er sich dann und ließ mich mit dem Feind allein. Das heißt, nicht ganz allein; Juri Milov blieb noch da; der klemmte sich ans Telefon, um abzuklären, daß die Stadt für unser unfreiwilliges Nachtlager aufkommt; und es gelang ihm tatsächlich, zu dieser mitternächtlichen Stunde eine Vorabklärung zu treffen.
Während ich mich mit Milov unterhielt, zogen die übrigen Mitglieder der Gruppe sich in eine im Halbdunkel liegende etwas abgelegene Sitzecke zurück.
Ja nu. Und schließlich verteilten wir uns auf die Zimmer. Zweibettzimmer; ich zusammen mit A. Schoelzel, der recht aufgeschlossen und sachlich wirkte und sich bei dem Konflikt neutral verhalten hatte.
Jurij Milov übernachtete der Einfachheit halber auch selbst dort.
Dös war denn der 20. Dezember.
Endnoten
[1] Mein eigenes Russisch war damals auch nicht besser, eher schlechter; aber für einen Wessi normal). Von Georgien wußte ich damals so gut wie gar nix und hätte mir nicht träumen lassen, daß ich dort mal über mehrere Jahre hinweg leben würde. Schon mit viel besserem Russisch, aber fast ganz ohne Georgisch. – Mit Schewardnadse hatte ich im Weiteren dann insofern indirekt zu tun, als ich mich öfter in seiner ehemaligen im Moskauer Umfeld gelegenen Datscha aufhielt und sogar seine Saune benutzte. Wäre ein Bericht für sich. Und auch in der Zeit, als ich in Georgien lebte, kreuzten sich mehrfach indirekt, aber doch nah, unsere Wege. Auch ein Bericht für sich… Fiel mir grad so ein. Das Leben iss lustig. – Eine Episode mit der Schewardnadse-Datscha siehe „Herumirrende Hilfsgüter“
[2] (Fredy Stach war, wie mir einfällt, da nicht mehr dabei)
[3] Ein paar Jahre später, von Moskau aus, korrespondierte ich kurz mit ihm; damals hatte er sich, wie in den wilden neunziger Jahren fast schon üblich, im Geschäftsleben häuslich eingerichtet. Die Korrespondenz verlief im Sande; ein vor kurzem unternommener Versuch, ihn nun per Facebook wiederzufinden, brachte nix.
Fortsetzung:
21. Dezember 1990 Twer – Wolgograd
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