Die Klamurke Notizen von unterwegs

In Russland Notiertes

Moskau: Herumirrende Hilfsgüter

Ein Abenteuer aus den Anfängen meines Kontaktes mit dem inzwischen von Moskau nach Bar (Montenegro) umgezogenen Zentrums für Außenseiterkunst (damals noch, kürzer, „Гуманитарный Центр“ „Humanitäres Zentrum“).

Sascha (links) und Wolodya (rechts)
zur Zeit der Wilden Neunziger Jahre

Oktober / November 1992

Überraschend hatte man mir das Schicksal eines mit humanitären Hilfsgütern vollgestopften herumirrenden französischen Sattelschleppers anvertraut. Die Hilfsgüter waren bestimmt für ein soziales Zentrum in der russischen Provinz weit hinter Twer. Der Sattelschlepper war den dortigen Straßen und Wegen überfordert, kam nicht mehr weiter und mußte schließlich aufgeben.

Kurzerhand hatte man ihn nach Moskau umgeleitet und mich gebeten, mich seiner anzunehmen.

Nicht so einfach, auf die Schnelle einen Ort zu finden, wo so ein Sattelschlepper seine Fracht zwischenlagern kann.

Wolodja und Sascha vom Humanitären Zentrum – die mit der Sache eigentlich nichts zu tun hatten – stellten kurz entschlossen die Räume ihres im Aufbau befindlichen Museums zur Verfügung und packten dann auch mit an, den Sattelschlepper abzuladen. Nach vielstündiger Schlepperei war dann vor lauter Kaffee, Spaghetti, Konserven und Kleidung von den Exponaten nicht mehr viel zu sehen. Nachts hielt immer einer Wache, damit die Sachen nicht von Unbefugten entfernt werden.

Vorübergehende bequemere Unterkunft für die Fracht fand ich etwas später auf dem Dachboden einer ehemaligen Datscha von Schewardnadse. Die lag in einem einstmals streng abgesperrten Waldgebiet nördlich von Moskau, das früher als Datschensiedlung und Erholungsgebiet für hohe Sowjetfunktionäre diente. In der Schewardnadse-Datscha war jetzt ein Behandlungszentrum für diabeteskranke Kinder untergebracht, mit dessen Ärzteschaft ich mich angefreundet hatte.

So wurden denn eines Tages mit Hilfe einiger kleinerer Lastwagen in zahllosen Fahrten von frühmorgens bis spät in die Nacht hinein die ganzen Sachen vom Humanitären Zentrum zur Schewardnadse-Datscha rübertransportiert. Ich selbst absolvierte den Schleppdienst an der idyllisch gelegenen Schewardnadse-Datscha, zusammen mit der gesamten Ärzteschaft des Diabetiker-Zentrums und einigen weiteren Helfern; und am Abend war meine Kleidung imprägniert von aus geborstenen Packungen herausrieselndem Kaffee, Speiseöl und sonstigem Zeug.

Das weitere Schicksal der Fracht gäbe, wie mir grad einfällt, das Material für eine absurde Erzählung; kommt vielleicht noch....

Eine Tagebuchnotiz nach der Überführung der Fracht in die Schewardnadse-Datscha:

Samstag, den 7.November 1992

Gestern vom frühen Morgen bis 11 Uhr Nachts mit Transport der Hilfsgütersendung vom humanitären Zentrum nach Nagornoje beschäftigt. Viele Tonnen der verschiedensten Substanzen wurden in diesen Stunden durch meine Hände bewegt; und heute tut mir alles weh: Rücken, Arme, Beine; und auch die Kopfhaut (infolge gelegentlicher Zusammenstöße mit der gar sehr niedrigen Decke). Meine Kleidung ist mit Schweiß, Öl, Kaffee, Zucker und sonst noch allem möglichem durchtränkt. Hab noch immer das gleiche an wie gestern; aber gewaschen hab ich mich natürlich. Das Badewasser war recht dunkel; und sicher waren nicht geringe Spuren von Kaffee darin.

Raymond Zoller