Um 9 Uhr Frühstück; als erste Ju. Milov und ich; nach und nach auch die übrigen dazu. Die Atmosphäre hatte sich aufgelockert. Juri Milov erwähnte im Gespräch mit mir eine interessante Gesetzmäßigkeit, die er beobachtet hatte: Daß in Rußland das Gesetz der "Schicksalsfügung" eine gewisse Wertigkeit hat. Er meinte, es würde ihn zum Beispiel nicht wundern, wenn wir uns, nachdem wir uns nun schon einmal getroffen haben, etwa irgendwo in Wien wieder über den Weg laufen würden. Als Fazit ergab sich, daß im russischen Alltagsgeschehen zwei Faktoren eine wesentliche Rolle spielen, die sonst weniger zur Geltung kommen: Improvisation und "Schicksal".1
Die Stadt schickte einen Kleinbus für eine Besichtigungstour, und wir fuhren los. Frau X, die bis dahin die Dolmetscherei erledigt hatte, hatte die Schnauze voll davon und meinte, es gäbe unter den Anwesenden ja auch noch andere, die das können. Womit diese unsympathische Aufgabe automatisch auf mich fiel; was einerseits gerecht war (hatte mich die ganze Zeit über gar sehr zurückgehalten mit Dolmetschen), andererseits aber gar sehr mich vom unmittelbaren Aufnehmen der Eindrücke und dem Stellen eigener Fragen ablenkte.
Ab Hotel fuhren wir eine langweilige breitere Straße entlang, kamen über eine Brücke und bogen nach links in die "Набережная Степана Разина" (Stepan-Rasin-Ufer), von wo aus die eigentliche Besichtigung begann. Der Name erinnert an die richtig große Wolga, wo wir hin wollten; doch hier war die noch ganz klein und schmal2. Wir fuhren denn entlang jener großspurig benamten Uferstraße, zur Linken, schmal und unscheinbar, die Wolga, zur Rechten ungepflegte niedrige Holzhäuser mit farbigen Fassaden; manche gar sehr verfallen. Insgesamt ein trostloser Anblick. Irgendwann bogen wir von jener endlos langen Uferstraße nach rechts ab, und fuhren kreuz und quer durch die Stadt. Ein volkskundliches Museum wollten wir besichtigen; doch war dies geschlossen, weil der Inhalt zur Zeit irgendwo in Deutschland ausgestellt war. Und in eine Kirche gingen wir hinein. Frauen mit gutmütigen Gesichtern, die mit Putzen, Aufräumen beschäftigt waren. Man bat mich, die Mütze abzunehmen (sowas vergeß ich in Kirchen leicht mal...)
Abstecher zu Fuß auf ein umzäuntes Marktgelände. Wider Erwarten war die Stimmung dort nicht im Geringsten bedrückt, und auch keine Spur von Hektik. Stände mit Obst, Gemüse... Jemand aus unserer Gruppe kaufte einen Rutenbesen; aus Schilf, scheint's, mit sehr schönen Farbabstufungen (selten, daß mir sowas auffällt; die Ästhetik der Farben ist für mich normalerweise ein Buch mit sieben Siegeln...) Frau X wollte Tee trinken; eine Marktfrau machte sich auf die Suche und trieb in Kürze tatsächlich ein Glas Tee auf. Außerdem schenkte sie uns einen kleinen Vorrat an Äpfeln.
Von Jurij Milov, dem Deputierten, hörte ich erstmals jenes Problem erwähnt, das ich mit meinen Worten als "Deputiertenseuche" zusammenfassen möchte. Es gibt ihrer zu viele; und den meisten fehlt die fachliche Kompetenz. Zunächst sind sie noch nicht freigestellt; doch die Freistellung steht zur Diskussion. Was bei diesen Mengen ganz beachtliche Ausgaben bedeuten würde. Jurij meint, man solle zum Beispiel den Stadtsowjet so auf fünfzig Personen begrenzen und die dann freistellen.
Die Zeit des Abflugs rückte heran; und so fuhren wir denn zum Flughafen. Hielten neben einem Dienstgebäude am Rande der Rollbahn. Startende und landende Düsenjäger; sehr viel Krach. Jurij ging in das Gebäude; kam zurück mit der Nachricht, man würde uns informieren, wenn das Flugzeug startklar ist. Ich stieg aus; wir gingen beide in das Gebäude, wo wir uns unbehelligt von Dolmetscherei unterhalten konnten. An Einzelheiten des Gesprächs kann ich mich nicht mehr erinnern.
Die Nachricht kam, daß unsere Maschine fertig ist. Machten uns auf die Suche. Fuhren vorbei an einer endlosen Reihe geparkter Antonovs; Schnauzen mit Planen abgedeckt; wie geblendete Monster... Fanden unsere Maschine. Die Besatzung stand einsatzbereit daneben.
Wir stiegen ein. Ich wieder auf meinem Stammplatz rechts an der Rückwand. Nacheinander wurden die Motoren angelassen; zuerst die beiden linken; dann sah ich durch das Bullauge, wie das äußere rechte Propellerpaar sich zu drehen anfing; auf Touren kam; schneller und schneller wurde; das Brummen nahm zu; schließlich begann auch das rechte innere Paar, sich zu drehen... Wir waren startklar. Rollten langsam zur Startbahn. Irgendwo schloß sich uns ein Düsenjäger an, zottelte hinter uns her. Wie 'n Schoßhündchen... An uns vorbei ein landender Düsenjäger. Bremsfallschirm.
Schließlich rollten wir los und starteten.
Ich verbrachte die meiste Zeit am Bullauge. Klarer Himmel. Besonders einladend sah's unten nicht aus. Rechteckig untereinander abgegrenzte Felder... Nicht übermäßig verschneit, und irgendwo hörte der Schnee ganz auf. Ein großer Wasserlauf wurde sichtbar, verbreitete sich zu einem großen Becken. Wir gingen tiefer. An den Rändern war das Becken schaumig, unsauber... Bei einsetzender Dunkelheit landeten wir. Ich verließ als erster das Flugzeug. Per Umarmung begrüßt von dem bis dahin nicht bekannten Ramsajev. Nach und nach erschienen auch die anderen. Mehrere Autos standen herum. Ein Polizist fragte Ramsajev, wann die zweite Reise sein wird. Ramsajev antwortete, die gehe morgen früh los, um 8. Ich verstand gar nix... Sonderte mich wieder etwas ab; unterhielt mich mit einem der Fahrer, die uns zu unserem Ziel bringen sollen. Der Fahrer war Angestellter der Stadt; und unser Ziel lag, wie ich erfuhr, 220 Kilometer weiter nördlich. Mit zwei PKWs fuhren wir los; über holprige Straßen ging es durch die Steppe...
Sehr spät am Abend kamen wir im Hotel an. Laut Programm war bereits für den nächsten Morgen der Rück - bzw. Weiterflug vorgesehen; d.h: Gemeinsam um 4 Uhr aufstehen; zum Flugplatz; ich mit erster Maschine nach Moskau; die andern weiter bzw. zurück nach Berlin. Ich selbst sollte erst mal in Moskau bleiben. – Meinerseits erstes diffuses Aufdämmern: In Wolgograd bleiben. Auch wenn ich nicht so recht wußte, was ich da sollte... Beim Abendessen gesellte sich eine junge Frau zu uns, Shenja, und ihr Mann, Sascha. Shenja Mitarbeiterin von Рамзаев; Ramsajev selbst war, gleich den meisten andern "Maßgeblichen", in der Steppe geblieben, um beim Umladen der Pakete zugegen zu sein. Mit beiden lockere Unterhaltung; Sascha betonte bei irgendeiner Gelegenheit halb scherzhaft, er sei Donkosake; zu meiner Überraschung erfuhr ich, daß es tatsächlich noch eine Bevölkerung gibt, die sich als Donkosaken versteht...
Mehr nebenbei erwähnte ich irgendwann, daß ich eventuell hierbleiben könnte. Shenja griff das sofort auf; meinte ich soll morgen früh um vier aufstehen und die Sache mit irgendeinem Igor besprechen; das Hauptproblem liege darin, das Flugticket auf einen andern Flug zu verlegen, da ein sehr großer Andrang bestehe.
Nun war mein Entschluß, in Wolgograd zu bleiben, schon fast fertig. Irgendwann ging ich schlafen...
Und langsam kam die Sicherheit: Ich bleib da.
Endnoten
[1] Anmerkung September 2015: Hängt möglicherweise auch mit einer stärkeren Offenheit und Beweglichkeit der russischen Mentalität zusammen. So etwas wie „Schicksal“ hat im wohlgeplanten Alltag des Durchschnittseuropäers keinen Platz; selbst Konstellationen außerhalb seines gewohnten Weltbilds, die seinen wohlgeplanten Alltag in wohlgeplanter Richtung bereichern und energischer weiterentwickeln könnten, nimmt er einfach nicht wahr; und selbst wenn er mal was merken sollte – so höchstens als nicht ernstzunehmende Exotik. (gilt meiner Beobachtung nach selbst für solche Durchschnittseuropäer, die sich in gescheiten Reden über „Schicksal“ zu ergehen lieben). Russen, sofern nicht europäisch oder sonstwie vermurxt, sind da offener und beweglicher.
[2] Die Wolga entspringt im Waldai-Gebiet; Verlauf siehe etwa hier. Twer ist die erste größere Stadt, die sie, von Westen kommend, durchfließt. Wolgograd unten an der Spitze des nach Westen weisenden Knies; als letzte größere Stadt vor Astrachan, wo sie ins Kaspische Meer mündet.
Fortsetzung:
22. Dezember 1990 - Erster Tag in Wolgograd
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