Die Klamurke

In Russland Notiertes

Sperenberg

Anmerkung September 2015

Am 11. Dezember des Jahres 1990 wurde ich in Stuttgart beim Frühstückskaffee von einer Bekannten, bei der ich grad zu Besuch war, gefragt, ob ich nicht an ihrer statt nach Wolgograd fliegen könnte. Das Diakonische Werk habe sie gebeten, eine humanitäre Fracht dortselbsthin zu begleiten; sie habe zugesagt; aber eigentlich habe sie keine Lust, nach Wolgograd zu fliegen.

Nach kurzem Überlegen willigte ich ein.

Vor kurzem entdeckte ich die verlorengeglaubten Aufzeichnungen zu dieser Reise, nach welcher für mich alles ganz anders wurde; die seien nun portionsweise in überarbeiteter Form wiedergegeben. Notizen aus einer Zeit, in welcher von Europa aus humanitäre Hilfsgüter in die zusammenkrachende Sowjetunion gebracht wurden und die Europäer die bösen Sowjets als am Boden liegende hilflose Wesen erleben durften.

Der Reihe nach:

Mittwoch, den 19. Dezember 1990

Ab Stuttgart, wo die Sache sich überraschend eingefädelt hatte, flog ich frühmorgens nach Berlin, und per Taxi ging es weiter nach Sperenberg.

Um 9 Uhr war ich in Sperenberg vor dem Eingang zum Militärstützpunkt. Auf der rechten Straßenseite vor mir ein Lastwagen; neben dem Führerhaus ein bärtiger Mann. Weiter vorn, auf der linken Seite, ein weiterer Lastwagen, daneben ein Sowjetischer Offizier und eine jüngere Frau im Gespräch; etwas weiter ab drei junge Burschen. Ich fragte den Mann am Lastwagen zur Rechten (später lernte ich ihn als Bezirksstadtrat St1. näher kennen) nach Frau X, die man mir in der Stuttgarter Diakonie als Kontaktperson genannt hatte.

Er deutete auf die Frau, die mit dem Offizier (den ich später als Major Думчев2, Dumtchev kennenlernte) im Gespräch war.

Die drei jüngeren Leute: Der Bildjournalist Andreas Schoelzel, ein zwanzigjähriger Zeitungsreporter, und ein Vertreter der Kirchenjugend namens M., der, wie sich herausstellte, etwas Russisch spricht.

Wir gingen rüber ins Dienstzimmer des Wachhabenden; warteten auf irgendwas.

Ich blickte nicht recht durch, was los ist und verstand vor allem nicht, welche Rolle mir selbst bei dieser Aktion zugedacht war. X (die sich als Deutschrussin entpuppte) unterhielt sich mit dem Major; die übrigen – inklusive meiner Person – schwiegen. Meinerseits lediglich ein ungeschickter Versuch, mit einem Unteroffizier […], der kurz hereinkam, um sich zu wärmen, ein Gespräch anzufangen. Von ihm erfuhr ich, daß wir auf die Ankunft eines deutschen Zöllners warten, der für die Fracht irgendwelche Papiere ausstellen sollte.

Im Weiteren wurde dann nach und nach deutlich, worum es geht: Ursprünglich war vorgesehen, die Fracht mit mehreren kleineren Maschinen nach Wolgograd zu transportieren; dann wurde umdisponiert, und man wollte alles in ein einziges Flugzeug laden. Und ein Flugzeug, welches die ganze Fracht auf einmal geschluckt hätte, war nicht zur Hand. Man versprach, daß die vorgesehene Maschine bis zum Abend da sein wird; sie würde dann sofort beladen, und wir könnten nach Mitternacht losfliegen.

Der Zöllner traf schließlich ein, erledigte die Sache mit den Papieren. St. und der Reporter gingen; fühlten sich überflüssig, da sie kein Russisch konnten. Sie wollten am Abend um 18 Uhr zurückkommen.

Die Lastwagen fuhren zu einem Schuppen; Infanterie wurde herbeordert, um sie von Hand zu entladen. Die Soldaten ließen auf sich warten. – Ich unterhielt mich derweil mit einem Uniformierten. Er sprach langsam und holprig; zunächst dachte ich, er wolle mich als "Ausländer" nicht überfordern; doch stellte sich heraus, daß er Armenier ist und Russisch für ihn eine Fremdsprache. Прапорщик (in Deutsch, glaub ich, Fähnrich); der Fachrichtung nach Feuerwehrmann; wie denn auch der für die Pakete vorgesehene Schuppen ein Feuerwehrschuppen war. Blitzende Feuerwehrhelme lagen herum und sonstiges Gerät; an den Wänden hingen Feuerwehrlosungen und sozrealistische Abbildungen heldenhafter Feuerwehrleute. Trotz bombastischer Losungen und Abbildung war die Stimmung locker und normal; auffallend überhaupt die ungezwungene Atmosphäre und die lockeren Umgangsformen zwischen Offizieren und Soldaten, was in merkwürdigem Kontrast stand zu den Horrorgeschichten, die man in letzter Zeit in sowjetischer3 und westlicher Presse über das sowjetische Militär hören kann.

Frau X, Major Думчев (Dumtchev), zwischendurch auch der Feuerwehr-прапорщик hielten sich die meiste Zeit im Dienstzimmer der Feuerwehrzentrale auf; hin und wieder gesellte ich mich dazu.

Die Soldaten kamen schließlich, begannen mit der Entladung. Zusammen mit einem der Lastwagenfahrer mischte ich mit; vor allem sorgten wir dafür, daß die Pakete nicht zu chaotisch gestapelt werden.

Nach Entladung der Lastwagen gingen wir mit Major Думчев (Dumtchev) ins Fliegerkasino essen; hinzu gesellte sich noch полковник (Oberst) Ильин (Iljin), Presseoffizier, sowie ein weiterer Offizier, auch Presse (Fotograf), dessen Nachnamen und Rang ich vergessen hab; weiß nur noch, daß er Саша (Sascha) hieß. Erfuhren, daß unser Flugzeug in Moskau steht und jeden Augenblick losfliegen muß. Unterhielt mich mit Major Думчев und Саша über Probleme des Sowjetischen Militärs; außerdem erzählten sie von den abenteuerlichen Befestigungsanlagen aus der Nazizeit im Umkreis ihres Standorts.

Nach dem Mittagessen (es begann bereits, zu dunkeln) gingen wir zusammen ins Kasino. Dort lief gerade die Verteilung von Geschenkpaketen an die Soldaten; die deutsche Bundeswehr hatte einen ganzen Lastwagen voll hergebracht. (am andern Morgen erzählte Oberst Ильин, daß einige der Soldaten – darunter auch Iljin's Fahrer Андрей – statt Schokolade und Gebäck Zucker oder Mehl erhalten hatten; das heißt: über irgendwelche geheimnisvolle Kanäle waren Päckchen aus unserer Lieferung unter die Bundeswehrpakete geraten).

Im Kasino stieß zu unserer Gruppe ein weiterer Offizier, N.; der telefonierte dann herum wegen der Maschine in Moskau. (im Armeejargon wird, wie ich mitbekam, ein Flugzeug als "борт", "Bord" bezeichnet; zumindest gilt das für Transportflugzeuge. Vielleicht auch ganz allgemein für "Laderaum", ganz egal, wie der sich fortbewegt) Zogen uns zurück in irgendein Büro im Kasino: Major D., Oberst I., Andreas Schoelzel, M., X; zwischendurch auch N. Oberst I. ging irgendwann; wir blieben und warteten. Irgendwelche Rundfunkleute kamen, machten ein Interview mit den beiden Kirchenleuten. Die Kirchenleute gingen zum Interview, kamen zurück. Wir warteten. Andreas Schoelzel schlief. Auch X wollte schlafen. Ich versuchte, für sie die Couch auszuziehen.

In meinen Bemühungen wurde ich durch die Rückkehr von Oberst Iljin. unterbrochen, der meinte, es sei Zeit fürs Abendessen. Er schickte ein Auto ans Tor, um den Stadtrat und den Reporter, die um 18 Uhr zurückerwartet wurden, in die Fliegerkantine zu bringen; wir übrigen machten uns zu Fuß auf den weg selbstdorthin.

Beim Abendessen erreichte uns die gute Nachricht, daß unsere Maschine in der Luft ist; so um 9 herum sollte sie bei uns landen. Man würde sie dann sofort beladen; und irgendwann nach Mitternacht sollten wir dann losfliegen.

Das Abendessen zog sich sehr lang hin; zwischendurch verließ ich die Runde, um mir etwas die Beine zu vertreten. Sah, daß es angefangen hatte zu schneien. Bei meiner Rückkehr an die Tafel erwähnte ich den Schnee; einer der Offiziere meinte so nebenbei, das sei schlecht.

Als wir dann schließlich die Tafel auflösten und die Kantine verließen, traten wir in eine weiße Winterlandschaft mit starkem Schneetreiben.

Und es ergab sich, daß bei diesen Witterungsverhältnissen unsere Maschine nicht landen kann und auf einen weiter südlich gelegenen Flugplatz umgelenkt werden muß.

Gen 9 Uhr - um die Zeit etwa, wo das Flugzeug bei uns hätte eintreffen sollen – machten wir uns auf den Weg zu unseren Schlafplätzen. Andreas Schölzel, der Journalist und M. übernachteten in einer Fliegerunterkunft in Sperenberg; Frau X, Fredy St. und ich fuhren in einem "Газик", "Gasik" durch dichtes Schneetreiben über verschneite Straßen in die Wünsdorfer Garnison in ein Offiziershotel. Mit im Auto: Sascha, Oberst Iljin und Andrei, der Fahrer von Oberst I.

Bei dieser Fahrt war folgendes interessant:

Das Fassungsvermögen eines Autos wird bestimmt durch die Menge an Personen, die reinpassen solcherart, daß dabei die Türen noch zugehen und der Fahrer noch halbwegs bewegungsfähig bleibt. Sicherheitsgurte gibt’s es nicht; und gefahren wird, so schnell wie's grad geht.

Solcherart fuhren wir denn über schneeglatte Straßen die weite Strecke nach Wunstorf. Ein Motorradfahrer, der mit großer Geschwindigkeit unseren Weg kreuzte, erregte allgemeine Bewunderung. "Самоубийца!" (Ein Selbstmörder) - sagte irgendjemand. "Наверно - русский" (Sicher ein Russe) - ein anderer.

In Wünsdorf bekamen St. und ich gemeinsame Unterkunft; kleine Wohnung für sich. Sascha sagte, er selber hätte mehrere Wochen dort gewohnt. Längeres Gespräch mit St.; unter anderem über seine Probleme mit irgendeinem Paragraphen, der ihn als Stadtrat verpflichtet, "ausweisungsrelevante" Informationen über Ausländer an die Ausländerbehörde zu melden. Er weigert sich und erwartet einen Prozeß.

Soweit dieser erste Tag in Sperenberg.



Endnoten

[1] Fredy Stach. Falls es gelingt, ihn zu kontaktieren und er mit Namensnennung einverstanden ist, würde ich in der endgültigen Version seinen Namen ausschreiben

[2]Schreib den Namen mal ungeniert aus

[3]Die damals noch sowjetische Presse war in jener Zeit des zu Ende gehenden Sowjetregimes so eifrig mit – tatsächlich auch notwendigem – Entlarven sowjetischer Unstimmigkeiten beschäftigt, daß manche einstmals stramm linientreue sowjetische Blätter von der auch weiterhin stramm linientreuen DDR-Führung noch kurz vor Zusammenkrachen der DDR verboten wurden. Manchmal schossen sie in ihrem Entlarvungseifer übers Ziel hinaus oder verhedderten sich in übertriebenem Verallgemeinern verstreuter zufälliger Einzelfälle; was aber nach den langen Jahren erzwungenen Verschweigens verzeihlich ist.

Zur russischen Übersetzung

Fortsetzung:
20. Dezember 1990 Sperenberg – Tver

Raymond Zoller