Um 9 (zum Frühstück reichte es nicht mehr) wurde ich von einem der Baptisten abgeholt zu einem Treffen. Am Abend vorher hatte ich mit dem Gedanken gespielt, dieses Treffen ausfallen zu lassen, da, wie mir schien, das Wichtigste bereits besprochen war und da ich zu baptistischem Gottesdienst und allfälligen weiteren Bekehrungsbemühungen keine Lust hatte. Diesen Gedanken hatte ich auch Sadtschenkov gegenüber geäußert; doch dieser hatte gemeint, ich soll doch besser hingehen; es könne interessant werden.
Der Mann, der mich abholte, erzählte mir unterwegs von den Schwierigkeiten und Hetzereien, denen sie in all den Jahren ausgeliefert waren; wie man sie selbst noch während der Gorbatschow-Ära gezwungen hatte, ein angelegtes größeres Stück Gemüsegarten wieder zu vernichten; und wie noch immer ein gewisses Mißtrauen übriggeblieben ist und man sich nicht so recht traut, nach außen hin etwas anzupacken.1
Die Sitzung wurde dann tatsächlich interessant. Erste Begegnung mit Jevgenij M.; zugegen auch Michail V. (den ich bereits am Vortage kennengelernt hatte). Grundton des Gesprächs: Die Voraussetzungen, die wirtschaftliche Lage selbst in die Hand zu bekommen, sind gut; bei gezielter Hilfestellung ließe sich in der Hinsicht viel erreichen.
Wir machten ab, daß ich am folgenden Tag ein größeres Stück Land in Augenschein nehme, welches bewirtschaftet wird.
Gemeinsames Mittagessen; und zurück ins Hotel. Kurze Mittagsruhe; und dann erschien Andrei Kaden.
Die Wolga entlang zu der angekündigten Lesung. Merkwürdig... Zur Linken die bombastischen Denkmäler an die Stalingrad-Schlacht... Der zum Denkmal erhobene zerschossene Ziegelbau, in dem damals der Sowjetische Stab sich verschanzt hatte. Zahlreiche Spaziergänger; viele führten Hunde an der Leine. Andrei meint, daß die Zahl der Hunde in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat; was in Anbetracht des Lebensmittelengpasses recht verwunderlich ist. Denn irgendwie muß man die Viecher ja füttern.
Die Lesung selbst brachte wenig; würde sie als dilettantisch bezeichnen. Über den Zaren Pawel I, der als der "Russische Hamlet" bezeichnet wurde. Versuch, ihn als radikalen und fortschrittlichen Reformer darzustellen; was aber irgendwie danebenging. Viele Details, die ihn eher als den kleinkarierten Wahnsinnigen ausweisen2, wurden sogar erwähnt; einfach so; als seien sie völlig normal. Mag ja sein, daß genialische Persönlichkeiten oftmals mit extremen Schrullen behaftet sind; aber dann hätte man wenigstens versuchen sollen, die Brücke aufzuweisen zwischen seinem Wahnsinn und seiner Genialität. Einfach ein beziehungsloses Durcheinander von Fakten und Thesen, ohne inneren Zusammenhang war das.
Auch die äußere Form des Vortrags war eher unbefriedigend: Auf der Bühne stand – ein Fernsehgerät. Dieses wurde mitsamt einem angeschlossenen Videorecorder vom Vortragenden höchstpersönlich eingeschaltet; und dann sah man ihn, den Vortragenden, auf dem Bildschirm in einer Sendung des Leningrader Fernsehens, wo er vor dem Hintergrund historischer Gebäude über Pawel I erzählte. Das ging sehr lange. Als die Sendung zu Ende war, schaltete er das Gerät aus, bestieg das Rednerpult und erzählte noch einiges, was er in der Aufzeichnung nicht gesagt hatte.
Dann gab es eine Pause; und nach dieser Pause hätte ich ihn, wiederum in einer Videoaufzeichnung, in einer Diskussion mit amerikanischen Historikern erleben dürfen. Hätte... Doch zog ich es vor, zu gehen. Andrei ging auch. Meine Einwände teilte er; doch meinte er, daß die Leute ein ganz gehöriges Informations-Defizit haben und nach allem greifen, was sich bietet. Es scheint denn, als sei es für mich, der ich außerhalb Rußlands lebe, einfacher, mich über den russischen Zaren Pawel I zu informieren, als für diejenigen, die in Rußland leben. Die Zeiten der Zensur sind zwar vorbei; aber es gibt einfach nix... Und auch die Videoaufnahmen aus Leningrad seien hier nicht uninteressant: Denn wer hat in Wolgograd schon mal die Möglichkeit, nach Leningrad zu kommen? Wer dort keine Freunde hat, wo er unterkommen kann, tut sich da schwer...
Trotzdem: Dieses Informationsbedürfnis könnte man auch niveauvoller abdecken...
Zurück die Wolga entlang. Hinunter zu einer bombastischen Anlegestelle von ausgesuchter Scheußlichkeit. Andrei erzählte, irgendwann sei mal ein Stalin-Besuch angesagt gewesen; und dann hätte man in aller Eile dieses Dings aufgerichtet. Stalin sei dann aber gar nicht gekommen. Auf meine Bemerkung, eigentlich müsse man das Ding in die Luft sprengen, meinte er, mit diesem Gedanken wär ich nicht allein.
In der Nähe ein kleineres Gebäude mit merkwürdiger unentzifferbarer Aufschrift. Andrei sagte, das sei Armenisch, und bei dem Gebäude handle es sich um ein armenisches Café. Vor Jahren sei mal eine Direktive erlassen worden, laut welcher in der Stadt Gaststätten zu errichten sind mit dem Flair der verschiedenen Republiken. Also errichtete man; und das hier sei das armenische Flair. In der Ausführung sei die Sache stellenweise ins Absurde abgerutscht. Die Einzelheiten sind mir entfallen; doch daß die Ausführung solcher zentral erlassener Direktiven leicht mal ins absurde abrutscht, ist normal; solches liegt in der Natur der Sache.
Auf ein großes Gebäude zeigte er, links von der Reihe der Schlachtendenkmäler. Das hätte sich die Parteiprominenz erbaut; Luxuswohnungen für den eigenen Bedarf. Es sei dann aber etwas anders gekommen, als die sich gedacht haben; große Demonstrationen hätte es gegeben; hier, auf dem Platz, wo wir standen, hätte man Versammlungen abgehalten und Massenkundgebungen. Einige von den Verantwortlichen hätten ihre Posten verloren; aber leider nicht alle.
Dann gab's noch ein kleines sachliches Problem, in Verbindung mit meiner Mission: Die Pakete für das Memorial. Die betreffenden Pakete wurden in irgendeinem städtischen Gebäude deponiert; und Andrei wollte wissen, ob es klar ist, daß die für ihn bzw. für das "Memorial" bestimmt sind und ob man sie dort rausrücken würde. Ich stellte klar, daß die Pakete für das "Memorial" sind; und falls man sie nicht rausgibt soll er bei mir anrufen; wir würden dann zusammen hingehen und sie rausholen. Es klang, wie auch mir selbst anschließend auffiel, gar sehr verwegen; und Andrei meinte, das Gebäude werde von Polizei bewacht...
- Ging ins Hotel, ruhte aus. Jevgenij M. rief an; lud mich zu abendlichem Teetrinken ein. Nahm an. Machten ab, daß wir um 7 im Hotel gemeinsam Abendbrot essen und dann zu ihm rüber.
Er erschien zusammen mit einem jüngeren Menschen namens Wolodja K.
Nach dem Abendessen gingen wir rüber in die - zumeist leerstehende - Wohnung von Wolodja; Unterhaltung bis weit nach Mitternacht. An Einzelheiten der Gespräche kann ich mich nicht mehr erinnern; nur wurde irgendwann im Verlaufe des Abends klar, daß wir zusammenarbeiten werden. Wolodja hält sich aus irgendwelchen Gründen die meiste Zeit bei seinen Eltern auf oder ist unterwegs (er sammelt kosakische Folklore auf Video); seine Wohnung stünde mir für die Zeit, da ich in Wolgograd bin, jeweils zur Verfügung3.
Endnoten
[1] Daß ausgerechnet Sadtchenkov mir den Rat gab, das Treffen wahrzunehmen, fand ich ausgesprochen fair. Denn eben er hat in diesem Unterdrückungsapparat, ob willig oder unwillig, eine maßgebliche Rolle gespielt; und es war klar, daß diese Dinge bei einem Treffen aufs Tapet kommen würden. Über diese dunkle Seite seiner Tätigkeit hab ich mich allerdings mit ihm auch im Weiteren nicht mehr unterhalten.
[2] Im Allgemeinen sieht man ihn, eben, als kleinkarierten Wahnsinnigen
[3]Zu einer Zusammenarbeit kam es nicht. Die beiden waren, wie ich rückblickend verstehe, Vertreter eines blindwütigen postsowjetischen wirtschaftlichen Abenteurertums, das in den Wirbeln unverhofft aufgebrochener Handlungsfreiheit unbelastet von störender Sachkenntnis alles Mögliche aufgriff und wieder liegenließ. Als Neuling war mir das damals noch neu.
Fortsetzung:
24. Dezember 1990 Dritter Tag in Wolgograd
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22. Dezember 1990 - Erster Tag in Wolgograd