Die Klamurke Notizen von unterwegs

In Russland Notiertes

Wolgograd

Anmerkung September 2015

Am 11. Dezember des Jahres 1990 wurde ich in Stuttgart beim Frühstückskaffee von einer Bekannten, bei der ich grad zu Besuch war, gefragt, ob ich nicht an ihrer statt nach Wolgograd fliegen könnte. Das Diakonische Werk habe sie gebeten, eine humanitäre Fracht dortselbsthin zu begleiten; sie habe zugesagt; aber eigentlich habe sie keine Lust, nach Wolgograd zu fliegen.

Nach kurzem Überlegen willigte ich ein.

Vor kurzem entdeckte ich die verlorengeglaubten Aufzeichnungen zu dieser Reise, nach welcher für mich alles ganz anders wurde; die seien nun portionsweise in überarbeiteter Form wiedergegeben. Notizen aus einer Zeit, in welcher von Europa aus humanitäre Hilfsgüter in die zusammenkrachende Sowjetunion gebracht wurden und die Europäer die bösen Sowjets als am Boden liegende hilflose Wesen erleben durften.

Kaum angekommen und vermutlich unausgeschlafen fliegt die deutsche Delegation zurück nach Berlin; ich selbst bleib in Wolgograd.

Weiter denn mit dem dritten Tag in Wolgograd:

Montag, den 24. Dezember 1990

Um 9 klärte ich mit Igor und Shenja die Sache mit dem Flug nach Moskau. Außerdem klärten wir ab, wen ich vor meiner Abreise alles noch sprechen muß. Besonderen Wert legte auf ein Abschlußgespräch mit Sadtschenkov; doch der wollte mich, laut Shenja, eh auch von sich aus noch sprechen. Sadtschenkov war mir wichtig, weil er die gegenwärtige Lage in dieser Gegend etwas gründlicher durchschaut und da er sich mit den geschichtlichen Vorbedingungen auseinandergesetzt hat.

Anschließend stießen zweie hinzu, deren Namen ich nicht entziffern kann; weiß auch nicht mehr, wer das gewesen sein könnte. Der eine von ihnen begrüßte sehr kühl Igor und Shenja; nicht zu übersehen sein gespanntes Verhältnis zur "начальство", zur Obrigkeit. Allgemein nicht zu übersehen ein starkes Mißtrauen allen gegenüber, die Amt & Rang haben; was auf der einen Seite nicht schlecht ist, auf der anderen Seite aber daran hindern kann, mit guten Leuten, die zufällig ein Amt bekleiden, einen Modus zur Zusammenarbeit zu finden.

Auch Sadtschenkov wird bei den Baptisten im allgemeinen abgelehnt; es heißt, sie hätten früher sehr unter ihm zu leiden gehabt. Was ich nicht ausschließen will. Sadtschenkovs Amt hat heute, so weit ich die Sache überschaue, keine direkten Exekutivbefugnisse mehr; dient mehr der vermittelnden Koordination. Vor nicht so langer Zeit aber gingen, wenn ich recht verstehe, manche Repressionsmaßnahmen eben von Sadtschenkovs Amt aus; zumindest diente es als ausführendes Organ. Sadtschenkov ist meines Erachtens zu sehr "Zoodirektor", als daß er von oben her angeordnete Repressionsmaßnahmen mit seinen "Schutzbefohlenen" besprochen und in gemeinsamem Bemühen neutralisiert hätte; vermutlich hat er sich, wenn auch stellenweise blutenden Herzens, ohne übermäßigen Zivilcourage an die eingehenden Befehle und Direktiven gehalten und hat sie ausgeführt. – So könnte es gewesen sein; man muß das aber noch abklären. Daß man ihm heute Unrecht tut scheint mir aber sicher; man wird da vermitteln müssen.

Mit drei Leuten, zu einem 100 Hektar großen Grundstück in der Steppe. Große Baumaschinen, Lastwagen, Traktoren... Ein im Bau befindliches mittelgroßes Steinhaus. Baubaracken. Gemeinsames Begehen des Grundstücks; zusammen mit dem Leiter dieses Projekts (dessen Namen ich vergessen habe). Die hundert Hektar waren zunächst aufgeteilt in 25 Hektar Weintrauben, 7 Hektar Apfelbäume, Aprikosenbäume und noch irgendwelche Bäume, die ich in meinen Aufzeichnungen nicht entziffern kann; und zirka 40 Hektar Gemüseanbau; der Rest ist für Gebäude und sonstiges vorgesehen. Demnächst werden noch 1000 Hektar dazukommen.

Als weitere Möglichkeiten wurden besprochen:

Fischzucht; Holzwirtschaft; Bearbeitung von Flaum (Bettdecken, Kleidung...); Bienenzucht (als Perspektive: Export von Steppenhonig als exotische Delikatesse.

In der Baubaracke sah ich eine Mitarbeiterin am Schreibtisch, die einen altertümlichen "Perlenrechner" bediente (weiß nicht einmal mehr, wie man sowas nennt). Große Holzkugeln, die in einem Holzgestell auf Drähten hin und her geschoben werden. Holte meinen Taschenrechner aus der Aktentasche und ließ den gleich da.

Anschließend nach Волжский, Wolshskij, eine erst in der späteren Sowjetzeit gegründete Stadt vierzig Kilometer Wolgaaufwärts. Mittagessen in einem Restaurant. Sogar Garderobe; wenn auch alles recht schmutzig. Aufgrund der gerissenen Aufhängeöse an meinem Mantel identifizierte die Garderobenfrau mich sofort als Junggesellen; ich gab schuldbewußt zu, daß dem so ist. Aber irgendwie schaffte sie es dann doch noch, den Mantel aufzuhängen... Essen war reichhaltig.

Ich stellte in allgemeinen Umrissen meine Position in diesen Zusammenhängen dar, in die ich unaufhörlich tiefer und tiefer hineingezogen und hineinverwoben wurde, ohne daß ich mich besonders darum bemühen müßte. Stellte klar, daß es mir um die ganze Region geht und daß ich diese Initiative der Baptisten als einen Keim betrachte, das Leben dort in positivere Bahnen zu bringen; daß ich es jedoch ablehne, mich am Ansteuern rein gruppenegoistischer Ziele zu beteiligen. Daß ich es zum Beispiel nicht in Ordnung finden würde, Lebensmittel zu exportieren (solches wurde ins Auge gefaßt), solange ringsum Mangel herrscht und daß ich solches nicht unterstützen würde. Dies wurde akzeptiert. Daß ich kein Kirchenmensch bin und daß keinerlei Chance besteht, mich in ihre Zusammenhänge hineinzuziehen, war gleichfalls klar.

Wir besuchten dann noch eine Näherei-Kooperative, die man in weitere Projekte gleichfalls einbeziehen wollte; und zwar wollte man örtliche historische Trachten exportieren. Zunächst arbeiteten sie hauptsächlich für Bühnen. Die künstlerische Leiterin nähte mir persönlich eine neue Aufhängeöse an meinen Mantel.

Und zurück ins Hotel.

Was dann noch im Einzelnen los war, weiß ich nicht mehr. Ruhte etwas aus. Abendessen alleine; der Kellner wunderte sich, daß ich so wenig bestelle.

Am Abend erschienen Volodja K. und Jevgenij M. zum Abschlußgespräch. Sie gaben mir die Liste mit dem benötigten Krankenhausbedarf und eine Aufstellung in Angriff zu nehmender Projekte. – Es schien mir verfrüht, diese Projekte, zu denen zwar gewisse Möglichkeiten und Ansätze bereits vorliegen, die aber noch lang nicht spruchreif sind, bereits jetzt aufzulisten und herumzuzeigen. Ich schlug vor, man solle die Dinge nicht zerreden und erst mal intern die nötigen Vorbereitungen treffen, da alles andere leicht ins Auge gehen kann (die Fähigkeit, solches zu sehen, ist unter anderem die Frucht gewisser Erfahrungen aus der Achberg-Zeit sowie mit eigenen "Projekten". Nix geht verloren...) Ich schlug vor, daß wir dieses Blatt zunächst mal bloß als internes Arbeitspapier benutzen und daß ich es niemandem sonst zeige. Volodja K. verstand sofort und war einverstanden; Evgenij zog, mit leichtem Zögern, nach.

Wir machten ab, daß Volodja und Jevgenij im Februar nach Deutschland kommen, um sich verschiedene Sachen anzusehen; unter anderem auch das Herdecker Krankenhaus; ich soll derweil Vorabklärung machen und mich um die Einladung kümmern1. Und im Mai würde ich dann selbst wieder rüberfahren und gleich länger dort bleiben, damit wir uns gemeinsam um die Koordinierung der verschiedenen Projekte und die - bis dahin hoffentlich bereits angelaufenen - "Westkontakte" kümmern. Dies in allgemeinen Umrissen .

So weit zu diesem Tag.



Endnote

[1] Eine solche Reise kam nicht zustande; sei es, weil ich selbst bremste, sei es, weil mir im Westen der nötige Rückhalt fehlte. Eine Tendenz zu blindwütigem Projekteschmieden war mir, wie angedeutet, bei den beiden aufgefallen; möglich, daß ich deshalb insgeheim zurückruderte; weiß schon nicht mehr.
Daß mir im Westen fast jeglicher Rückhalt fehlte, ist sowieso klar; und der fehlte all die Jahre hindurch, die ich dann in Rußland verbrachte. Im Auftrag des deutschen Diakonischen Werks war ich dann noch ein paarmal in Wolgograd; das mit den Einwegspritzen kam, wenn ich mich recht erinnere, zustande; vielleicht sonst noch dieses und jenes, das ich vergessen habe. Was ganz sicher nicht zustande kam war eine wohldurchdachte Hilfe zur Selbsthilfe. Wie ich um ein paar Ecken herum erfuhr, legte man mir die entsprechenden Vorschläge als private Geschäftemacherei aus.
– Nun gut; ich bin kein Kirchenmensch, die Kirchenmentalität ist mir fremd, und ich bin rein zufällig über eine kirchliche Organisation da reingerasselt. Eigentlich blieb man sich gegenseitig fremd.
Doch mit sonstigen Kreisen, denen ich mich eher verbunden glaubte, ging es nicht besser. Eher schlechter.
Iss aber egal. Gelaufen isses, wie es nun mal gelaufen iss.
Bzw. hauptsächlich nicht gelaufen
So isses

Fortsetzung:
25. Dezember 1990 Wolgograd – Moskau

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23. Dezember 1990 - Zweiter Tag in Wolgograd

Zur russischen Übersetzung

Raymond Zoller