Eingang Klamurke Libellen

Von lebenden
und von eingegossenen
Libellen

Aus vorklamurkischen Zeiten

- Seite 4 -

Raymond Zoller
am 2. April 1982

Eine persönliche Erfahrung in Sachen Unsachlichkeit und Fanatismus: Wenn es mir gelingt, über diese Stufe hinauszukommen (was alles andere als selbstverständlich ist), wenn ich von allem absehe, was ich selbst als wahr und richtig empfinde und nur das Zustandekommen eines sachgemässen Urteils im Auge habe, werden selbst die verhärtetsten Gesprächspartner, die ich sonst als borniert und eigensinnig (noch bornierter und eigensinniger als ich selbst) kenne, plötzlich sachlich. An ein Gespräch kann ich mich erinnern, wo ein fanatischer Befürworter der Atomenergienutzung – zumindest für den Verlauf dieses Gesprächs – ganz selbstverständlich die ganze Fragwürdigkeit der Atomenergiepolitik sah und vieles selbst aussprach, ohne daß ich es ihm „vorgekaut“ hätte. Wo ich nicht über meinen eigenen Seelenschlamm hinauskomme, da prallt dann Meinung gegen Meinung, Emotion gegen Emotion. Der Seelenschlamm des einen zieht den Seelenschlamm des andern an. Da ich selbst dieses Problem sehe, betrachte ich mich normalerweise selbst als den Hauptschuldigen, wenn es bei einem Gespräch über solches fruchtloses Hickehacke nicht hinauskommt.

Nochmal zu obigem Beispiel: Ich bemühe mich heute, kein Atomgegner zu sein. Ich sehe in der Atompolitik bestimmte Fragwürdigkeiten, Gefahren; weiß auch, daß sehr viel mit falschen Karten gespielt wird. Ich finde es wichtig, daß man sich bemüht, die Fehlinformationen usw… richtigzustellen. Und ich glaube, wenn die Auseinandersetzung verstärkt auf geistiger Ebene geführt würde, daß dann solche Massendemonstrationen gar nicht nötig wären. Wie weit wissen diejenigen, die demonstrieren, selbst, worum es geht? Vielleicht unverschämt, wenn ich, der ich nie an einer Demonstration teilgenommen habe und auch noch nie in meinem Leben eine Anti-Atom-Plakette (oder auch sonstwelche Plakette) getragen hate, eine solche Frage stelle. Ich habe das Gefühl, daß eine gewisse Komponente von Vereinsmeierei und vor allem diese verdammten Plaketten ein Surrogat sind für eine gewisse fehlende „Aufrechte“, für einen Zusammenhalt aus klarer Einsicht heraus. Ich glaube, daß ein halbes Hundert an Menschen, die jeglichen Fanatismus und jegliche Rechthaberei in sich getilgt haben und sich in den „geistigen“ Bereich, wo es nur um Wahrheit geht, hinaufgeschwungen haben, wesentlich mehr ausrichten könnten als ein halbes Hunderttausend Demonstranten. Denn nur wer selbst „in der Wahrheit lebt“ kann die andern zur Wahrheit aufrufen. Seelenschlamm hingegen zieht Seelenschlamm an; und im Physischen stößt Gewalt auf Gewalt. (…)

Ich hab mir mal wieder Material schicken lassen von der FIU (Free International University), die mit Beuys und den Achbergern zu tun hat. (…) Es geht der FIU unter Anderem um die Schaffung von „Feldern freien Geisteslebens“; worum es ja auch mir geht. Nur bin ich eben nicht sicher, ob sie unter „freies Geistesleben“ das gleiche verstehen wie ich. Ich habe das unangenehme Gefühl, daß man dort im Großen und Ganzen noch immer nicht über den Bereich der „vorgedachten Inhalte“ hinaus ist, und daß ihre Grundfrage nicht darin besteht: wie kann man „Felder“ bilden, in denen ein freies gemeinsames Voranschreiten zur Wahrheit möglich ist? – sondern: wie kann man Zusammenhänge (Felder) bilden, in denen ich von mir Ausgedachtes und als richtig Empfundenes am besten an den Mann bringen kann? Ein Wort, das ich damals in diesen Kreisen immer wieder gehört habe und dessen asoziale Bedeutung mir erst später aufgegangen ist, ist das Wort „agitieren“.

Ein symptomatischer Satz etwa aus dem Material, das ich jetzt bekommen habe: „In dieser Situation stellt sich für die alternative Bewegung die entscheidende Frage, wie die sie bildenden Strömungen, Initiativen, Arbeitsfelder, Institutionen und Organisationen noch besser, noch erfolgreicher, noch überzeugender in der Öffentlichkeit wirken können, damit so bald wie möglich die Mehrheit der Bürger sich löst von den bisherigen Denkgewohnheiten und Praktiken und ihre Unterstützung zuwendet den neuen Perspektiven einer alternativen gesellschaftlichen Entwicklung.“

Es geht also darum, noch erfolgreicher, noch überzeugender, usw. … eine Position zu vertreten, die man sich erarbeitet hat; mit dem Ziel, die Bevölkerung zu diesem „Richtigen“ zu bekehren. Man versteht sich nicht selbst als in einem Prozess befindlich, sondern als Besitzer von Resultaten, vermittels derer man die Welt glaubt retten zu können.[1]

Solche Resultate mögen noch so gut und richtig sein – für den, der sie übernimmt, sind sie genauso ideologischer Ballast wie alles andere auch.

Es ist unser Problem mit der Persönlichkeit/Sachlichkeit-Beziehung.

Ich selbst bin nun aber der Überzeugung, daß man zu solchen „Feldern freien Geisteslebens“ gar nicht kommen kann, wenn man sich nicht die Mühe nimmt, die feineren Gesetzmässigkeiten dieses „freien Geisteslebens“ zu durchschauen. Dazu gehört, daß man unterscheiden lernt, wo man selber frei ist und wo man auch den anderen freilässt. Wenn ich jemanden durch Agitieren dazu bringe, mir zu folgen, so bin weder ich frei noch er. Ich selber bin gezwungen, mich immer wieder um Wege zu kümmern, die meine Autorität festigen (und die oft gar nichts mit der eigentlichen „Sache“ zu tun haben); und er selbst folgt mir aus Gründen, die ihm selbst nicht einsichtig sind. Im eigentlichen freien Geistesleben hingegen kann es gar keine Gefolgschaft geben. (…) Dort geht es nicht um Gefolgschaft oder Nichtgefolgschaft, Sympathie oder Antipathie, sondern um das Bemühen, sich und die Welt so zu verstehen und zu nehmen, wie es ist. Was jemand anders sagt zu einem Problem, das einen beschäftigt, das nimmt man zur Kenntnis, bewegt es in sich; das Anschauen dessen, worauf der Andere einen hingewiesen hat, muß man bar selber tun. Beim Aufnehmen besteht die Kunst darin, das Gesagte als Hinweis zu verstehen (genau wie wenn jemand mir im Physischen den Weg zeigt, er mir den Weg selbst nicht abnehmen kann); und beim Formulieren besteht die Kunst darin, daß es nach Möglichkeit als Hinweis verstanden wird. Jede Komponente von Überreden und aufdrängen-Wollen ist da fehl am Platz. Von mir selbst muß ich sagen, daß ich sowohl in Bezug auf das freie Aufnehmen als auch in Bezug auf das freilassende Formulieren noch sehr hart an mir arbeiten muß. (…)

Wir scheinen beide in einem ziemlichen Gärungsprozess begriffen; was mich betrifft, so habe ich die grösste Mühe, meine Gedanken in eine übersichtliche und allgemeinverständliche Form zu bringen. (…) Ich brauch noch mehr Disziplin.

Ich werde versuchen, vermehrt kürzere Aufsätze zu schreiben; auch wenn sich die Frage stellt: wohin damit? Aber man hat’s ja noch gut: Solschenizyn hat über zehn Jahre heimlich geschrieben und durfte seine Sachen kaum jemandem zeigen; geschweige denn, daß er hoffen konnte, sie jemals gedruckt zu sehen.

Mir ist sowieso m liebsten, wenn solche Aufsätze quasi als „Samisdat“ kursieren, als Photokopien von Hand zu Hand weitergegeben werden: der westliche Mensch ist des Gedruckten müde (ich auch); was persönlich von Hand zu Hand geht, wird ganz anders aufgenommen. – Oder auch in Mini-Auflage, von höchstens hundertfuffzig, drucken.

Für mich wird sich das Schreiben auf die Dauer nur entwickeln können in Verbindung mit dem Publikum (wie klein es auch sein mag; ist mir sogar lieber, wenn’s nicht allzu groß ist); und zwar sollte diese Verbindung nach Möglichkeit sich nicht auf ein bloßes Produzent-Konsument-Verhältnis beschränken.

Raymond Zoller
am 4. April 1982

Dazu[2] habe ich mir bereits Anfang Jahres Notizen gemacht; es hätte eine Art Einleitung werden sollen zu einer Abhandlung über meinen Dilettantismus: ich verfüge über keinerlei anerkannten „geistigen“ oder physischen Besitz; aber ich setz mich mit meiner und meiner Zeitgenossen geistigen Stagnation auseinander und suche für mich und andere nach Wegen; und da liegt meine Aufgabe; und vielleicht hätte ich sogar, unverschämt und arrogant wie ich bin, dazu bemerkt, daß ich und meinesgleichen, indem wir uns unserer Finsternis und unseres geistigen Rückstandes bewusst sind und bewusst um Überweindung der Finsternis ringen, im Grunde gründlicher in der Wirklichkeit, im Leben stehen, als andere, die bewusstlos in ihrem „geistig“ und physisch Erworbenen untergehen.

Solschenizyn hat sich mit dem physischen Gulag auseinandergesetzt (nicht nur, natürlich); der mitteleuropäische Gulag ist ein rein geistiges. Sachgemäße, bewusste Auseinandersetzung „aus Betroffenheit heraus“ über dieses unser Gulag habe ich noch kaum gefunden. Es wird überall noch zuviel heile Welt vorgegaukelt; oder aber es wird rein äußerlich gekämpft: politisch usw. …; immer gegen irgendetwas. Aber es sollten sich Menschen finden, die den Mut haben, ihrer ganzen Erbärmlichkeit ins Angesicht zu schauen; die den Mut haben, sich in ihrer ganzen Erbärmlichkeit hinzustellen und zu gestehen: seht, das bleibt von mir, von uns übrig, wenn die Surrogate wegfallen. Denn man kann die Erbärmlichkeit nur überwinden, wenn man sich ihrer bewusst wird.

Die Steiner-Zitate wurden, sehr viel später, erst am 15. Juli 2021 eingefügt. Im April 1982 kannte ich die noch nicht. - R.Z.


1) Anmerkung September 2021; die Sache aus einer anderen Perspektive betrachtend:

Stimmt im Prinzip; aber mitunter geht es um das Bekämpfen solch hanebüchener offensichtlicher Falschheiten, daß es nicht ausreichend sein kann, den von den Falschheiten Befangenen zu helfen, sich aus ihrer Befangenheit herausarbeiten: mitunter sind die Folgen der Befangenheit so schlimm, daß man nicht umhinkommt – mitunter unter Lebensgefahr – mit der Faust auf den Tisch zu hauen.

Während der Hitlerzeit, zum Beispiel, entsprang es ganz sicher Befangenheit, daß man die Menschen in lebenswerte und nicht lebenswerte einteilte und die als nicht lebenswert betrachteten einsperrte oder umbrachte. Daß manche unter Einsatz ihres Lebens sich dem widersetzten und versuchten, das von ihnen als Richtig erkannte durchzusetzen, war unbedingt richtig.

Oder, etwas harmloser: Wenn, zum Beispiel, im Mathematikunterricht ein Schüler zur Lösung eines mathematischen Problems eine nicht stimmige Gleichung aufstellt, so ist es Aufgabe des Lehrers, unter Deutlichmachen der anstehenden gedanklichen Schritte ihm zu erklären, was er falsch gemacht hat.

Was die Bildung von „Erkenntnisgemeinschaften“ und bewusste Gemeinschaftsbildung im Allgemeinen betrifft – sind meine damaligen Formulierungen in Ordnung.

Um die Sache mal von einer anderen Seite zu betrachten.


2) Siehe den Aufsatz „Wo der Mensch anfängt

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Raymond Zoller