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Aus vorklamurkischen Zeiten

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Wo der Mensch anfängt

Raymond Zoller; April 1982

Zwölf Jahre lang ist Albert Speer im Dienste eines verbrecherischen Regimes gestanden; und während der Niedergangszeit dieses Regimes hat er Wesentliches zu dessen Aufrechterhaltung beigetragen.

Ich habe seine Erinnerungen gelesen; und was ich da las, macht ihn mir zutiefst sympathisch.

Manche finden das befremdlich: Ob ich nicht gar nationalsozialistisch angehaucht bin?

Sie sehen das Spektakuläre, das Speer im Dienste dieses Regimes geleistet hat. Worauf es mir aber ankommt, ist nicht das Spektakuläre, sondern die Art, wie er sich damit auseinandersetzt.

Nicht seine Abhängigkeit von Hitler macht ihn mir sympathisch, sondern sein Ringen darum, sich dieser Abhängigkeit zu entwinden; nicht die Verantwortung, die er auf sich geladen hat, sondern die Art, wie er sich dieser Verantwortung stellt.

Nicht dort, wo in bewusstlosem Einverwobensein in Zeit und Umwelt Greifbares und Spektakuläres zustandekommt, erscheint der Mensch, sondern dort, wo er sich über dieses bewusstlose Hineinverwobensein hinauserhebt.

Und dieses Sich-Hinauserheben ist unabhängig von ausgebildeten Fähigkeiten, sozialer Stellung und sonstigem „Greifbarem“. – Wobei zu sagen ist, daß ein Zuviel an als angenehm empfundenem „Greifbarem“ den Menschen nur zu leicht erstickt. Auch Albert Speer kam erst zu sich, als das wegfiel.

Der äußere Erfolg, den eine Tätigkeit einem bringt, kann einen davon abhalten, diese Tätigkeit in ihrem tatsächlichen Zusammenhang mit dem Weltgeschehen zu untersuchen; der äußere Effekt, der durch automatisch ablaufendes intellektuelles Denken bewirkt wird, kann einen davon abhalten, das Denken selber unter die Lupe zu nehmen; usw…: Man bleibt ein bewusstloser Spielball von Automatismen und äußeren Einflüssen.

Dieser eigentliche Bereich, in dem der Mensch anfängt, ist heute nur schwach ausgeprägt; den wenigsten nur gelingt es, sich merklich über den „Lärm der Welt“ hinauszuarbeiten. Es ist auch ein hartes Unterfangen: Sofort kommt man an einen Punkt, an dem man spürt: Ein Schritt weiter, und ich stehe im Nichts; in einem Bereich, von wo aus das Meiste oder gar alles, was ich mir erarbeitet habe, was ich gelernt habe, mir als wertlos erscheinen könnte; wo ich vielleicht sehen müsste, daß ich ganz von vorne anfangen muß.

BriefwechselRaillard: Gedankenbuch

Raymond Zoller