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Aus vorklamurkischen Zeiten

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Briefwechsel
Georges Raillard - Raymond Zoller

Georges Raillard
am 15. März 1982

Lieber Herr Zoller!

„Sie“ oder „Du“ – diese Unterscheidung ist mir insofern wichtig, als die Möglichkeit des Übergangs, des Näherkommens darin enthalten ist. Ein innerer Vorgang nimmt auch nach außen hin Gestalt an. Leider ist diese Form – wie die meisten sozialen Formen – ein Ritual geworden: die Form hat den Inhalt verloren. Und wie Sie schreiben: die Sprache ist entwertet; auch sie läuft Gefahr, eine leere Form zu werden. Oder wenn man an das wissenschaftliche Fachchinesisch denkt, vielleicht sind die Inhalte so geworden, daß sie sich nicht mehr in eine dem Menschen gemäße, zugängliche und von Menschen hervorbringbare Form bringen lassen.

Auch ich möchte meinen, was ich sage respektive schreibe: es ist aber oft schwierig. Kurz und gut: ich schreibe gerne „Du“. (Prost!). (…)

Die Tatsache, daß ich angefangen habe zu studieren, entspringt eigentlich – Gedankenlosigkeit. Ich entstamme einer (gut-)bürgerlichen Familie, die großen Wert auf eine geregelte Ausbildung und Berufsergreifung legt. Es ist halt üblich, daß man nach der Matur (= Abitur) auf die Universität geht, etwas Lustiges studiert und schließlich dann „etwas wird“. Dies bemerkte ich allerdings erst vor dem letzten Drittel meines Studiums und nicht schon an dessen Anfang!

Es wimmelt nur so von Studenten, die studieren, weil das so üblich ist; nur scheint denen nichts zu fehlen! Nun, wenn sie dabei zufrieden sind, muß man das akzeptieren. Für mich bemerke ich jedoch, daß es ein Fehler ist, ohne ein inneres Bedürfnis nach Erkenntnis und Wissen, ohne den wirklich eigenen Willen, etwas für sein eigenes, persönliches Menschsein zu lernen. Es kommt mir so vor, als ob das Missbrauch sei.

Ich erlebe es so: ich lerne etwas, nur ist „ich“ nicht meine Persönlichkeit, sondern so eine Art Funktions-Ich; das, was ich lerne, verändert und entwickelt mich nicht, trifft mich nicht in meiner Seele, verbindet sich nicht mit meiner Existenz, sondern baut eine äußerliche Ersatzpersönlichkeit auf, die dann später dazu da sein soll, im Sozialen wie im Berufsleben möglichst effizient zu funktionieren. Das gibt natürlich eine Spaltung: in ein ursprüngliches Ich, das Fragen hat, das eigene Aufgaben sucht, das eigene Willensimpulse in sich trägt; und in ein „Ich“, das das andere äußerlich überlagert und verdrängt, das nach außen hin zur Darstellung kommt, das zur Funktionstüchtigkeit erzogen wird.

Ein Beispiel: Es wurden ein paar Sonette des spanischen Dichters Francisco de Quevedo behandelt, der im Barock gelebt hat. Diese Sonette sind sehr pessimistisch, handeln von der Sinnlosigkeit des Lebens angesichts des doch sicheren Todes. Nun, es wurde dann viel geredet vom Stil, von der Biographie dieses Mannes, von Vergils „Carpe diem“, von der Reaktion der Zeitgenossen und Ähnlichem. Worüber nicht geredet wurde: Ist das Leben denn tatsächlich sinnlos angesichts des sicheren und gewissen Todes? („Wir treiben doch keine Philosophie oder Psychologie hier!“)

Der Zustand der philosophisch-historischen Disziplinen ist vielleicht das Traurigste an der heutigen Wissenschaft. Gewiss, die Naturwissenschaften haben zum Teil Schreckliches hervorgebracht. Nur: Chemie ist Chemie, Physik - Physik, Atomphysik - Atomphysik. Es liegt nicht an den Atomen und deren Erforschbarkeit, daß es die Atombombe gibt. Es liegt an der mangelnden Menschenbildung all derer, die an diesen Forschungen beteiligt (gewesen) sind; und dies, scheint mir, wäre die Aufgabe der sogenannten Geisteswissenschaften (gewesen). Da wäre die Ausbildung eines notwenigen Gegengewichts am Platz gewesen, und genau da haben diese Geisteswissenschaften versagt und versagen immer noch, indem sie ebenso vom Menschen abgesehen haben wie die Naturwissenschaften, wo der Mensch ja in der erforschten Sache kaum eine Rolle spielt; tritt er dort nur als Erforscher auf, so ist er hier, in den Geisteswissenschaften, zugleich das Forschungsobjekt. Um etwas anderes geht es ja da im Grunde genommen gar nicht!

Der Mensch ist aber immer Persönlichkeit, Ich. Das ist doch das Wesentliche an ihm! Wenn nun die Geisteswissenschaften die ichhafte Persönlichkeit aus ihrem Treiben verbannen, bewegen sie sich im luftleeren Raum und sind wirklich zu nichts nütze: reines Parasitentum und Schöngeisterei. Sie bringen mich weder einer äußeren, zu erforschenden Welt, noch mir selber näher, sondern bauen eine Scheinwelt auf, die zu nichts in einer existentiellen Beziehung lebt und reiner Selbstzweck ist. Wie gesagt: es ist lustig, aber einen tieferen Sinn und lebendige Konsequenzen hat das nicht. Aber eben: etwas – muß man doch tun…

Es ist ein sehr heimtückischer Vorgang der Entfremdung: glaubt man doch, sich mit „Geistigem“ zu beschäftigen. Das Ich wird auf seinem eigenen Felde aus dem Feld geschlagen; man glaubt, „ich“ zu werden, jedoch ist es nur so, daß man sich eines erwirbt. Das ist der Missbrauch: das Geistige entwickelt vorgeblich die eigene Geistigkeit, dient aber in Tat und Wahrheit dazu, sie zu verdrängen und zu unterdrücken.

Das Fatale ist, daß durch solche langjährige Praxis und Gewohnheit das richtige Ich dann tatsächlich verloren geht. Man weiß dann tatsächlich nicht mehr: Was will ich? Was möchte ich? Was denke ich? Und sogar: was bin ich? Da ist dann nur eine schwarze Leere, man hat den Kontakt zu sich selbst verloren, ein Fall für den Psychiater. Und da kann man dann am Ende seines Studiums sagen: ich weiß zwar viel, kann aber nichts…

Merkwürdig scheint: vielleicht gibt es wirkliche Sachlichkeit nur dort, wo auch wirkliche Persönlichkeit ist; vielleicht sind das nicht Gegensätze, sondern Dinge, die sich gegenseitig bedingen.

Zwischenfliege

Raymond Zoller
am 23. März 1982

Bevor ich zu weiterem komme, möchte ich noch umreissen, auf welchem Weg ich dazu gekommen bin, solche und ähnliche Sachen zu schreiben.

Vor zehn Jahren, in einem Gespräch mit Freunden – die Frage war aufgetaucht, ob ich es nicht doch mit einer Ausbildung oder mit einem Studium versuchen sollte – brachte ich mal die ganze Runde mit folgendem Bild zum Lachen: erst wenn ich so weit bin, daß ich über den Köpfen der Lehrer sitze und mich kaputt lache, während sie irgendetwas, was sie für mich halten, in spanische Stiefel einschnüren.

Es ist mir aber nicht gelungen, diese Freiheit zu erringen. Vielleicht hätte ich sie inzwischen oder wäre zumindest nahe dran; doch ist das mir nun egal: ich geh konsequent meinen Weg und mach diesen Diplom- und Ausbildungsschwindel nicht mehr mit. Ich weiß jetzt mit letzter Sicherheit, daß dieses pervertierte Ausüben leerer Riten auf besinnungsloser Diplomjagd nichts unabänderlich-Gottgegebenes ist, sondern schlicht und einfach menschlicher Schwäche und Dummheit entspringt. Der Beitrag, den diese Haltung an der sich abzeichnenden sozialen Katastrophe hat, ist sicher nicht unwesentlich: der Mensch wird ausgeschaltet. So betrachte ich es als meine Menschenpflicht, dagegen anzukämpfen.

Gelernt habe ich nichts; ich bin ein 32-jähriger Dilettant. Nicht mal Abitur. Daß ich überhaupt bis mittlere Reife gegangen bin, betrachte ich heute als einen Fehler: bevor ich zur Schule ging, hatte ich noch für so manche Gebiete ein lebhaftes Interesse; in dem Maße, wie diese Dinge in der Schule „dran“ kamen, ödeten sie mich bald an. Als ich mich absetzte, war ich wüst und leer; und auch denken konnte ich kaum noch. Bin dann gut 10 Jahre herumgeirrt, diesen Panzer abzuschütteln.

Ich irrte herum, auf der Suche nach echtem Leben und klaren Gedanken. Daß ich auf herkömmlichen Wegen, in bestehenden Bildungseinrichtungen, nicht fündig werden könnte, wurde mir immer mehr bewusst; ich spürte, daß man mich hier umso gründlicher von der Wirklichkeit abschnüren würde.

Manchmal dachte ich, wie schön es wäre, einen Menschen etwa in der Art der russischen „Starzen“ zu treffen (sicher kennst du den Starez Sossima in Dostojewskijs „Brüder Karamasoff“): die Sehnsucht nach einem echten Lehrer war lebendig.

1975 stieß ich auf R. Steiner1 und seine Schüler. Bei R. Steiner blieb ich; der wurde mir zunehmend eine unentbehrliche Hilfe; von den Anthroposophen, zumindest von deren offiziellen Vertretern, kam ich mit der Zeit jedoch wieder ab.

Dein Vorwurf, daß die Geisteswissenschaft ihr Anliegen, ihre Aufgabe verraten hat, gilt auch für die anthroposophische Geisteswissenschaft.

Durch ein konsequentes Aufgreifen der anthroposophischen Geisteswissenschaft hätte der Mensch seinen Platz gefunden. Dadurch aber, daß in weiten Kreisen die Anthroposophie zu einem Dogmensystem degradiert wurde, das halt die eine Entfremdung durch eine andere ersetzt, wurde diese Chance vertan: die alte Gesinnung blieb, wurde nur mit bunteren Farben kaschiert. Dies bedeutete aber keineswegs bloß eine Neutralisierung der Möglichkeiten, die mit Steiners Werk gegeben wären, sondern darüber hinaus die Verkehrung zum Schlimmen: Der heutige Anthroposoph hat wesentlich mehr Möglichkeit, Geistlosigkeit als Geist, Stagnation als Fortschritt, Unfreiheit als Freiheit auszugeben.

Zwischenfliege

Georges Raillard
am 31. März 1982

Mein Weg unterscheidet sich von deinem in fast allen äußerlichen Belangen; trotzdem gibt es einige Parallelen, Dinge, die mir bekannt vorkommen.

Etwa die Schule. Die Tatsache, daß ich Englisch und Spanisch studiere, ist für einen Kenner baslerischer Schulverhältnisse sehr bedeutsam. Denn ich bin in eine Schule gegangen, wo Altgriechisch Diplomfach war und nicht Englisch; Englisch war nur Freifach, das man nur aus Interesse und nicht aus Notenzwang u.ä. lernte. Spanisch wurde überhaupt nicht gelehrt; das habe ich im Alleingang gelernt. Das waren damals sozusagen unbefleckte Fächer: mein Verhältnis zu ihnen war nicht zerstört durch Notenzwang, Paukerei und Intellektuellengewäsch. Ebenso ging es mit dem Freifach Russisch, welches für mich heute noch eine unbefleckte Sprache ist, da ich sie Gottseidank nicht studiere. Die deutschen Klassiker etwa sind für mich heute noch Feindgebiet. Es ist zwar nicht mehr die Barriere der Frustration und Langeweile, die mich heute abhält, Goethe zu lesen; es ist nicht mehr so, daß ich diese Bücher am liebsten verbrennen würde. Heute ist es mehr die Macht der Gewohnheit. Habe ich irgendein Problem, dann komme ich schlicht und einfach gar nicht auf die Idee, daß Goethe oder Schiller mir da etwas zu sagen hätten. Von der Frustration über den Bildungsballast ist noch Gleichgültigkeit und Desinteresse übriggeblieben, ein gewisses Phlegma (was meinem Charakter sowieso entspricht). Ich habe die größte Mühe, eine individuelle Beziehung zu den Bildungsklassikern zu finden; zu lange war es Gewohnheit, über diese Leute nur unverbindliches intellektuelles Geschwätz zu hören. (…)

Ich werde (…) zu zeigen versuchen, daß echte Sachlichkeit nur da entstehen kann, wo echte Persönlichkeit ist (ob auch das Umgekehrte stimmt – soweit bin ich noch nicht). Wo eines fehlt oder irgendwie verzerrt ist, stimmt auch beim anderen etwas nicht. Nach meinem Erleben wird in der heutigen Universitätsausbildung beides verpasst. Es ist da keine Sachlichkeit und keine Persönlichkeit, sondern ein undifferenzierter Mischmasch, der dazu führt, daß man als Scheinpersönlichkeit eine Scheinausbildung über ein Scheingebiet scheindurchläuft. Man verliert den Kontakt nach zwei Seiten hin: nach innen und nach außen. Die beiden Seiten der Wirklichkeit verschwinden. Das führt zur Frage: Wie muß eine Bildung der Persönlichkeit aussehen und wie eine Ausbildung der Sachlichkeit? (…)

Mir ist diese lärmende, geifernde und totschlägerische Militanz zutiefst zuwider, ein Greuel. Und ich muß diese Haltung leider vor allem auf der sogenannten „linken“ Seite beobachten. Das heißt, dort ärgert sie mich am meisten. Wenn ich von den beiden älteren Semestern im Kreml und im Weißen Haus solche Töne vernehme, dann wundert mich das nicht: von denen habe ich ja nichts anderes erwartet. Die sind ja konservativ, finden die alten Sachen gut, auch wenn es Mist ist; darum nennt man sie ja konservativ. Wenn nun aber Leute antreten, die es besser machen wollen, die bessere Gedanken zu haben und bessere Taten zu vollbringen beanspruchen, und bei ihnen menschlich doch nur das Gleiche abläuft, nur die Inhalte und Worte ausgewechselt werden, dann – auf gut Schweizerdeutsch gesagt – stellt es mir ab. Die Ideologie, das Dogma, die Sturheit, die Intoleranz kommen durchs Hintertürchen wieder rein: in Gestalt von „persönlicher Erfahrung“ und dergleichen. Man bleibt an seiner persönlichen Erfahrung hängen, will sie nicht transzendieren, will nicht über die eigene Nasenspitze hinausschauen; sie wird zu einem geistigen Besitz wie jegliche andere Ideologie: die Ideologisierung der eigenen Erfahrung. Diese persönliche Erfahrung macht es mir fast unmöglich, mit solchen Leuten und Gruppen zusammenzuarbeiten. Allerdings würde ich demselben Fehler verfallen, wenn ich ebenso unsachlich keinen Unterschied zwischen Gedanken und Impulsen und der Art und Weise, wie diese in die Welt gestellt werden, machte. Auch ich darf nicht bei meiner persönlichen Erfahrung stehenbleiben. Du siehst, daß ich nicht gegen die persönliche Erfahrung bin. Ich glaube, sie ist die einzige mögliche Basis, der einzig mögliche Ausgangspunkt. Nur muß es dann von da auch wirklich ausgehen: darüber hinaus, weiter hinauf.

Irgendwie müsste es doch möglich sein, eine Position der Mitte zu finden zwischen einseitigem Subjektivismus und einseitigem Objektivismus. Wohlgemerkt: eine Position der Mitte, die nicht einfach auf einem faulen Kompromiss basiert, sondern etwas ganz Eigenes, Originäres darstellt. So eine Art „persönliche Sachlichkeit“ oder „subjektiver Objektivismus“. Ich habe den Eindruck, daß Steiner in eine solche Richtung gegangen ist. Ich kann es aber gedanklich noch nicht für mich selbst fassen.

Ich habe dieses Ausgehen von der persönlichen Erfahrung zu einer objektiven Gedanklichkeit hin in letzter Zeit versucht, an Alltagsgegenständen durchzuführen. (…) Ich habe dabei entdeckt, daß in diesen Alltagsdingen ungeheuer viel Philosophie, Gedanken und Geistiges steckt. Wo eigentlich sonst sollten sie sein? Man muß nur hinschauen, hinschauen in persönlicher Erfahrung und in unbefangener Sachlichkeit. Oder eben: in persönlicher Sachlichkeit. Bleibt man ganz bei sich selbst und seinen Gedankenkräften, kommt man der Sache merkwürdigerweise am nächsten. Aber eigentlich ist es ja logisch: ich muß bei mir selbst sein, um auf andere und anderes zugehen zu können: damit ich auf andere und anderes zugehen kann. Wer würde es sonst machen, wenn ich nicht ich bin? Wohl irgend so eine Zwang-Pflicht-Scheinpersönlichkeit, die ich für mich selbst halte, die aber äußerlich aufgepfropft ist. Darum ist es auch logisch: je näher ich mir selber bin, desto näher bin ich den Dingen und der Welt, so paradox und ungewohnt das tönt.


[1]Steiner, Rudolf (27.02.1861 - 30.03.1925). Österreichischer Philosoph und Bewusstseinsphänomenologe. Sein Grundanliegen, der vor allem in seinem Hauptwerk „Die Philosophie der Freiheit“ dargestellte „ethische Individualismus“, blieb bis heute weitgehend unverstanden. Wird irrtümlich, sowohl von Gegnern als auch von zahlreichen Anhängern, als Schöpfer neuer Glaubensinhalte betrachtet.
[Im Jahre 1983 von R. Zoller verfasste Originalfußnote. Besagter Verfasser ist bis heute im Prinzip mit seiner damaligen Formulierung einverstanden; bloß würde er das heute etwas anders darstellen. Stand noch etwas unter Schock ob des Kontrastes zwischen den Anregungen, die er bei Steiner fand und der Geistesart, die sich bei zahllosen Steiner-Anhängern bemerkbar machte (R. Zoller im Jahre 2021)]

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Raymond Zoller