Die Klamurke Belletristik
Ins Land des Lasters

Eine Episode




Vor vielen Jahren, an einem lauen Maienabend, stemmte ich den Deckel eines Kanalisationsschachts in die Höhe und schickte mich an, ins Freie zu kriechen.

Einer jener unvergeßlichen Maienabende war's, von denen die Dichter so gekonnt zu singen und zu berichten wissen; mit lauer, von Vogelstimmen durchzitterter Luft, mit Leben, das keimt und sich regt sowie mit Gefühlen, die in uns geweckt werden.

Wieso ich mich damals in der Kanalisation verborgen hielt, wüßte ich heut nicht mehr zu sagen; zu viel Zeit ist verflossen seitdem, zu vieles passiert; nur vage kann ich mich erinnern, daß es in der Karl-Friedrich-Straße gewesen sein muß, direkt neben jener Laterne, an der sich Onkel Otto seinerzeit so unglücklich die Nase gebrochen hat und die in meiner Familie seitdem 'Der Prellbock' genannt wird.

Wie ich aber den Kanaldeckel in die Höhe gestemmt hatte, da sah ich mich plötzlich zwei Frauenfüßen gegenüber, die unbeirrt in meine Richtung strebten. Die Füße steckten in wohl verarbeiteten hochhackigen Schuhen und in Strümpfen mit einem Muster, welches mir außerordentlich gut gefiel; und kaum, daß ich mir all dies vergegenwärtigt hatte, – als sie auch schon in ihrer Bewegung innehielten; und gleichzeitig sprach über mir eine frische Mädchenstimme die Worte:

"Beinah wäre ich über Sie gestolpert!"

Auf der Suche nach dem Quell dieser Stimme ließ ich den Blick die Beine entlang nach oben gleiten. Die Beine verloren sich in der Dunkelheit des Rockes; und wie ich die Augen weiter hob gewahrte ich direkt über mir ein von blondem Haar gerahmtes liebliches Antlitz, welches mir freundlich zulächelte.

"Sie sollten nicht auf Kanaldeckel zulaufen", – sagte ich in väterlichem Tone und schwang mich aus dem Schacht ins Freie. – "Sowas ist gefährlich."

"Wieso gefährlich?" - fragte das engelhafte Wesen.

"Weil Sie einbrechen könnten", – antwortete ich geschäftig und versuchte, meinen linken Fuß, der sich in der Halterung des Deckels verheddert hatte, wieder freizumachen. – "Die Deckel sind oftmals nicht richtig verankert."

"Doch hat dieser hier nicht nach innen sich bewegt, sondern nach außen; und auch nur deshalb, weil Sie von unten her schoben", – entgegnete sie und schien erstaunt. – "Und zudem geschah all dies, noch bevor ich ihn erreicht hätte."

"Das läuft aber in diesem Fall aufs gleiche hinaus," – antwortete ich ernst und gedachte mit Wehmut der unabwendbaren Notwendigkeit, dieses engelhafte Wesen nun zu packen und in den Schacht zu stopfen, auf daß sie mich nicht verrate und meinen Häschern ausliefere.

Wieso ich damals Gefahr lief, verraten zu werden und welchen Häschern sie mich hätte ausliefern können, wüßte ich heut nicht mehr zu sagen; zuviel Zeit ist verflossen seitdem, zu vieles passiert....

Ich hatte unterdessen meinen Fuß befreit, sprang in die Höhe und packte sie.

"Sie machen mich schmutzig!" – konnte sie noch flüstern, bevor ich ihr mit meiner Rechten den Mund zuhielt.

"Leider muß ich Sie gefangensetzen", – flüsterte ich zurück. – "Bleiben Sie ruhig, dann wird Ihnen nichts passieren."

Ich lockerte den Griff um ihren Mund.

"Wo wollen Sie mich gefangensetzen?" – fragte sie flüsternd. – "Und warum?"

"Auf dem Grunde des Schachts", – antwortete ich. – "Meine Gründe aber kann ich Ihnen erst später eröffnen." – Weiter lockerte ich den Griff um ihren Mund. – "Steigen Sie freiwillig hinab, oder muß ich Sie tragen?"

"Ich steige freiwillig hinab", – flüsterte sie. – "Zum Tragen ist es zu eng."

Ich ließ sie frei; und sogleich machte sie sich daran, über die Leiter nach unten zu steigen.

Langsam kletterte ich hinterher und verschloß hinter mir die Öffnung.

(Episodisches aus der Arbeit an der Georgisch-Übersetzung dieser Episode kann man bei Interesse hier nachlesen)




© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung
Zur georgischen Übersetzung





Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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