Die Klamurke Belletristik
Zwischenfliege

Der Absprung

"Hörst du dieses merkwürdige Geräusch?" – fragte Krückh.

"Nein", – antwortete ich. Denn ich hörte kein merkwürdiges Geräusch.

"Irgendwas ist mit dem Motor nicht in Ordnung", – sagte Krückh.

Der Motor lief ruhig und gleichmäßig. Zumindest schien mir, als laufe er ruhig und gleichmäßig; aber vielleicht täuschte ich mich, denn mit Motoren und vor allem Flugzeugmotoren kenn ich mich nicht aus. Krückh ist da sicher kompetenter.

„Die Sache gefällt mir nicht...“ – murmelte Krückh und legte die Rechte unentschlossen auf den Gashebel. Dann neigte er den Kopf wie fragend nach rechts und drehte am Steuerhorn.

Der Horizont machte einen Schwung.

„Wenn der Motor explodiert, sind wir verloren...“

„Vielleicht siehst du alles zu schwarz?“ – versuchte ich ihn zu beruhigen. – „Der Motor ist doch in Ordnung? Oder? Hör doch, wie ruhig er läuft!“

"Ruhig nennst du das?" – Krückh schüttelte den Kopf. – "Wo hast du deine Ohren? Er kann jeden Moment explodieren!"

Mit einer entschlossenen Bewegung nahm er die Hand vom Gashebel und legte sie aufs Steuerhorn.

"Ich steig besser aus!"

"Wie du willst", – antwortete ich. Obwohl solches mir sehr ungelegen kam. Ich habe noch nie ein Flugzeug geflogen und werde sicher die größten Schwierigkeiten damit haben; und sollte mit dem Motor tatsächlich etwas nicht in Ordnung sein, so wüßte ich vollends nicht mehr, was ich tun soll. Andererseits aber schien es mir nicht recht, ihn zum Bleiben zu überreden: Wenn er sich entschlossen hat, auszusteigen, so ist das seine freie Entscheidung, und ich habe kein Recht, mich da einzumischen.

"Du kannst ja versuchen, weiterzufliegen", – unterbrach Krückh meine Erwägungen.

"Ich will's versuchen", – antwortete ich.

Was blieb mir anders auch übrig? Aussteigen kommt nicht in Frage, ich bin noch nie mit einem Fallschirm abgesprungen und komm damit sicher noch viel weniger zurecht als mit einem Flugzeug. Und zu alledem gab es an Bord nur einen einzigen Fallschirm.

"Vielleicht kriegst du das Ding heil runter", – sagte Krückh und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. Dann öffnete er mit einer energischen Bewegung die Tür und sprang hinaus.

Zwischenfliege

© Raymond Zoller
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Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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