Die Klamurke Notizen von unterwegs

Erinnerungen an Zeiten wirren Herumtastens

(Nachfolgendes schrieb ich im September des Jahres 1990. In einem Stuttgarter Hotel war das, wo ich – auf Kosten einer Firma, für die ich dringende Übersetzungen erledigte – vorübergehend logierte.)

Gestern konnte ich tatsächlich schon um drei weg. Ging ins Hotel, ruhte etwas aus. […] Fuhr dann in die Stadt ein paar Besorgungen machen; u.a. kaufte ich mir den Steiner-Band "Geschichtliche Symptomatologie". Zurecht, wie vorhin die Lektüre des ersten Vortrags zeigte.

Ich habe den Band bereits einmal durchgelesen; vor zehn Jahren muß das gewesen sein. Damals hat er mich wenig beeindruckt; inzwischen verstehe ich auch, wieso: Nämlich stand ich damals noch zu sehr unter dem Einfluss einer in Dogmatik versackten „Anthroposophie“, welche eifrig mit einem x ignotum namens "Bewusstseinsseele" operiert; beziehungsweise nicht einmal x ignotum, sondern leeres Etikett; und von daher blieb es mir natürlich unverständlich, warum die Menschheit für dieses Wort "Bewusstseinsseele" sich solcherart aufbäumen sollte.

Eben die mit dem Etikett "Bewusstseinsseele" operierende Bewusstseinslosigkeit hatte mich damals noch in ihren Klauen und hemmte den Zugang zu dieser Thematik.

Wie dem auch sei: Die Lektüre des ersten Vortrags in dieser „Geschichtlichen Symptomatologie“ hat mich erfrischt.

Nachfolgendes notierte ich im Oktober des Jahres 1990 in der deutschen Stadt Dortmund.

Ich las den anstehenden Vortrag im "Karma der Unwahrhaftigkeit"; und noch deutlicher wurde mir, wie sehr für mich die Zeit reif ist für aktive Auseinandersetzung mit dieser Thematik.

Dann nahm ich das nächste Kapitel in "Raum und Gegenraum" von Locher-Ernst durch. Zum wiederholten Male; wobei mir bewusst ward, wie schlampig ich bis jetzt damit umgegangen bin und wie wenig Mühe ich mir gemacht habe, die Begriffe klar zu fassen.

Und bewusst wurde mir darüber auch, wie wenig ich im Grunde genommen denke (es ging um das Kapitel über die unendlich fernen Elemente; doch egal: Geschlampt hab ich überall; und auch diese Schlamperei gehört mit zum Themenkreis „Unwahrhaftigkeit“.)

Im September 1990, in Zeiten nicht mehr ganz so wirren Herumtastens, tippte ich in einem Stuttgarter Hotel nachfolgende Erinnerungen. Damals waren die Erinnerungen an jene früheren Zeiten noch recht frisch; viel frischer als jetzt, im Oktober 2024, beim Schreiben vorliegender Zeilen.

In jenem Hotel hauste ich auf Kosten einer Stuttgarter Firma, für die ich gelegentlich dolmetschte und übersetzte. Das hatte sich ergeben, als ich bei einer Bekannten, die ein Übersetzungsbüro betrieb, gelegentlich aushalf. Da die Firmen, bei denen ich dabei zum Einsatz kam, befanden, dass ich das sehr gut mache, bekam ich häufig direkte Aufträge. Für besagte Stuttgarter Firma war ich Stammübersetzer. Wäre es mir nur ums Geld gegangen, so hätte ich als Übersetzer Karriere machen können…

Zum Einsatz kamen da meine Russischkenntnisse, die ich mir, ohne recht zu verstehen warum und wozu, auf eigenen Wegen angeeignet hatte. – Aus bürokratischer Sicht spreche ich kein Wort Russisch. Aufgewachsen bin ich mit „Luxemburgisch“, einem deutschen Dialekt. In der Schule lernte ich Französisch, Englisch, und auch Latein. Russisch brachte ich mir im Selbststudium bei; und es gibt keinerlei amtliche Papiere, die mir irgendwelche Russischkenntnisse bestätigen würden.

Den Firmen war das egal. Man sah, dass bei meinem Einsatz die Kommunikation mit den russischen Partnern reibungslos funktioniert; und das reichte.

Der damals während jenes Hotelaufenthalts dahingetippte Tagebucheintrag:

Notiz vom 9. September 1990

Wozu diese ganze Schul-und Gymnasiumzeit? Hä? Zeitverlust, reiner Zeitverlust. Hätte ich stattdessen eine vernünftige Erziehung genossen, die mich mit meinen Anlagen gefördert hätte, so wäre diese Zeit nicht sinnlos verloren gewesen… Und dann noch die darauffolgenden zwanzig und mehr Jahre ziellosen Herumvagabundierens, die ich brauchte, um den ganzen Mist abzuschütteln und irgendwelche Ansätze freizulegen.

Pfui Deibel. Wobei ich, von Ausnahmen abgesehen, nicht mal was gegen die Lehrer habe; da waren zum Teil gute Leute drunter (meine die Gymnasialzeit; Primarschulzeit war reinste Katastrophe und dauernde Konfrontation mit Tiefststand menschlichen Geistes); aber irgendwie: kam schon vermurkst im Elternhaus an. Die Eltern wurden nicht mal mit sich selber fertig; ein zur Orientierungssuche veranlagter Sprössling hätte sie auch dann überfordert, wenn er ohne solches Bündel an unverdautem Schicksal sich eingefunden hätte. – Hier war die zweite Stufe der Vermurxung; diese zweite Stufe wurde dann von der dritten überlagert, den sieben Jahren Primarschulzeit, in denen ich auf Gedeih und Verderb irgendwelchen Analphabeten ausgeliefert war, denen man aus irgendwelchen Gründen anvertraut hatte, "mich zum Menschen zu machen" (eine Ausnahme bilden zwei Lehrerinnen, zweite und dritte Klasse, glaub ich, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann; weder im Guten noch im Schlimmen; was wohl bedeutet, dass sie sich zumindest nicht in dem Maße durch geistigen Tiefststand hervortaten wie jene geistlichen und weltlichen Persönlichkeiten, welche meine Katastrophe, genannt "Primarschulzeit", prägten). Eines der schrecklichsten Jahre meines Lebens war das Jahr auf der Realschule; hab das mehr oder minder aus meinem Gedächtnis gelöscht. – Das Nachfolgende war dann nicht mehr ganz so schlimm; es gab Lehrer, die mich in irgendeiner Weise verstanden; die bemüht waren, mich zu fördern oder zumindest in Ruhe zu lassen; diese dritte Katastrophe manövrierte mich zwar zielstrebigst auf eine Wand zu; doch war sie dank einiger guter Lehrer die harmloseste. (was passiert wäre, wenn die ganzen Lehrer auf dem Niveau der "Spunti", "Pino" oder gar dem Niveau meiner Primarschullehrer gestanden hätten - darüber kann man nur spekulieren. Vermutlich wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als bei einem der trauten Rendezvous mit meines Vaters Jagdgewehr irgendwann doch den Abzug zu ziehen...) Die Wand aber musste eh kommen; die war veranlagt.

Da niemand mich erzogen hatte, musste ich nachträglich alles selbst in die Hand nehmen. Zunächst richtete ich meine Aktivität mal dahin, dass ich mir Psychologen und Psychiater suchte, denen ich meine Befreiung aus diesem Wust anvertrauen wollte; und diese meine Aktivität führte mich dann zunächst mal in ein Schweizer Sanatorium, woselbst ich mich zunächst als "Patient" herumtrieb; wobei aber, wie mir heute klar ist, die Rolle der damaligen bewusst durchgeführten "Therapie" in der Gesamtbilanz eine verschwindend geringe Rolle spielt. Relevant war das Verschwinden aus Luxemburg und aus dem Elternhaus, die endlosen Wanderungen, die Bootsausflüge, neue Leute; und auch die Hoffnung, die ich an die Therapie knüpfte (wohlgemerkt: nicht die Therapie selbst).

Dann kam der Moment, da ich aufhörte, „Patient“ zu sein und in den Angestelltentrakt umzog. Es war auf der einen Seite ein Triumph und auf der andern eine Niederlage, da ich damit alle Hoffnungen begrub, durch ein psychiatrisches "Wunder" die Kräfte, die ich in mir wusste, auf einen Schlag freizulegen.

Aber ich merkte, dass diese Arbeit auf Dauer nix für mich ist.... Spielte mit dem Gedanken, den Lastwagenführerschein zu machen, dann zur See zu fahren, ab und zu an Land zu gehen und in fremden Landen mich als Lastwagenfahrer durchzuschlagen. Gab die Arbeit im Sanatorium auf; landete erst mal wieder in Luxemburg, wo ich mich eine Weile als Hilfsarbeiter in einer von meinem Vater betreuten Firma durchschlug.

Aus irgendwelchen Gründen denke ich an Frau L. Was heißt aus irgendwelchen Gründen... 1975 hielt ich auf eine zweite Wand zu. Sie half mir hindurch. Was ohne sie passiert wäre, weiß ich nicht; wäre kein anderes Wunder geschehen, so wäre es vermutlich schiefgegangen. Von ihr hörte ich zum ersten Mal den Ausdruck "ein Mensch, der ein Schicksal hat". Einen solchen sah sie in mir; und sie stand auf dem Standpunkt, dass man solche Menschen fördern muß, weil es auf sie ankommt. Und so förderte sie... Inzwischen habe ich einiges erreicht; aber noch immer nur einen geringen Teil der Möglichkeiten... Manchmal scheint es mir, als hätte ich noch in diesem Dasein was zu tun; dann wiederum hab ich den Eindruck, dass ich zu den Kräften und Möglichkeiten, die ich dazu bräuchte, keinen Zugang finden kann... So oder so konnte ich aber einiges auflösen und klären; sei es für bald, sei es für später...

Wieso bin ich jetzt in diesen biographischen Rückblick reingerasselt? Eigentlich hab ich den Computer eingeschaltet, weil ich endlich die Übersetzung für B. in Angriff nehmen wollte.

Aber irgendwie hab ich doch anderes zu tun als zu übersetzen? Oder? Irgendwas muß geschehen!

Nachbemerkung 2024

Die Jahre der Versumpfung betrachte ich inzwischen nicht mehr als reinen Zeitverlust; ich sehe das nun positiver. Nämlich habe ich – Leiden hin, Leiden her – mit wachsender Bewusstheit die verfaulende kulturelle Situation unserer fortschrittlichsten aller Zeiten durchwandert, und durch Ausformulierung meiner Erfahrungen kann das nun für vereinzelte Leidensgenossen eine Hilfe sein.

Eben für sie schreibe und veröffentliche ich solche Sachen.

Was andere, die sich in die Fäulnissituation wohl integriert haben und sie als solche gar nicht wahrnehmen, von meinem Geschreibe halten – ist mir egal. Einfach nicht weiterlesen, und alles bleibt gut.

Die weiter unten wiedergegebenen Zeilen schrieb ich sechs Jahre später in Moskau. Schon nicht mehr als Dolmetscher, sondern als Übersetzer und Redakteur in einem anthroposophischen Verlag.

Die in Moskau aufgeflammten Erinnerungen beziehen sich auf die Folgen einer Reise, bei welcher ich Anregung fand, mich stärker auf die „Anthroposophie“ einzulassen. Nach jener Reise hauste ich wieder eine Weile in Luxemburg; ein Aufenthalt, der mich gar sehr zerknautschte. Meinen Job als Hilfsarbeiter hatte ich aufgegeben wieauch die Idee mit dem weltumsegelnden Lastwagenfahrer.

Ich wollte es mit einem anthroposophischen heilpädagogischen Heim versuchen; schrieb mehrere Heime an. Positive Antwort erhielt ich nur von der erwähnten Frau L.

Das von ihr in Bliestorf, Nähe Lübeck aufgebaute und geleitete Heim hatte noch einen größeren landwirtschaftlichen Betrieb; dort arbeitete ich dann; kurvte mit dem Trecker herum, beaufsichtigte landwirtschaftlich tätige Zöglinge.

Als Praktikant nahm ich auch Teil an von einem Anthroposophen abgehaltenem „Anthroposophieunterricht“. Das war ganz nett; aber ich konnte nicht viel damit anfangen. Steiner las ich lieber für mich allein.

Einmal pro Woche gab es für uns Praktikanten auch Eurythmie. Da versagte ich völlig; verstand nicht, was das soll. So sehr versagte ich, dass die Eurythmistin den Auftrag erhielt, mit Einzelunterricht zu geben. Die Eurythmistin war in Ordnung; beim Einzelunterricht verstand ich sehr schnell und sehr gründlich, worum es geht; so gründlich verstand ich, dass sie meinte, ich müsse unbedingt Eurythmie studieren. Ein gewisser Zugang zur „Lautgestik“ war veranlagt… - (Erinnere mich, dass sogar eines meiner frühen Gedichte, „Odysseus 1975“, bei der Gelegenheit eurythmisiert wurde)

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Das zweite erwähnte heilpädagogische Heim war der Sonnenhof, Nähe Bamberg. Der erwähnte R. hatte unübersehbar zur Entwicklung drängendes geistiges Potential; jene Frau L. aus dem Bliestorfer Heim hätte das sicher bemerkt. Am Sonnenhof bemerkte man es nicht; da störte er nur. Damals war ich motorisiert; abends trieben wir uns gelegentlich in Bamberg herum, teils in Kneipen, auf der Suche nach irgendwas Unbestimmtem. An einem Abend suchten wir aus nicht erinnerbaren Gründen nach einer Straße namens „Sandstraße“. Ob wir sie fanden – weiß ich nicht mehr. – Als unsere Wege sich trennten und wir gelegentlich miteinander korrespondierten, leiteten wir unsere Briefe ein mit dem Slogan „Viva Sandstraße“.

Notiz vom 14.Juli 1996

Irgendwie bin ich wieder dumpf; möglicherweise, weil ich so lang auf den Schirm gestarrt habe. - Einen Kaffee habe ich gekocht; und selbigen trink ich nun, dieweil ich tippe.

Ist ja immerhin ein Fortschritt in den sechs Jahren seit Stuttgart. Damals übersetzte ich Texte, die mich nicht interessierten und zu denen ich auch - als Nicht-Techniker - nicht recht vorbereitet war; inzwischen redigiere ich Texte, die mich gar sehr interessieren und bin zudem für diese Arbeit, wenn ich das so sagen darf, eine Fachkraft, für die sich nicht so einfach Ersatz finden ließe.

Kann mich erinnern: Hab damals diesem Stuttgarter Anthro, dem K., einen Brief geschrieben wegen Russischausbildung aus der Praxis heraus. Ganz diffus tastend war dieser Brief, wenn ich mich recht erinnere, den ich da Ende 76 oder Anfang 77 schrieb; hatte damals nur eine dunkle Gewissheit, dass die russische Sprache - mit der ich mich bis dahin nur so nebenbei und ohne Ziel beschäftigt hatte - im Weiteren für mich eine besondere Bedeutung annehmen würde. (das Problem der «Ausbildung aus der Praxis heraus» konnte erst viel später - wenn auch nur rudimentär - in Angriff genommen werden, als ich mit den Leuten von der „Freien Studieninitiative“ und darüber dann auch mit A.W. in Kontakt kam. Doch war das dann auch nur abstrakt, theoretisch; aber immerhin beruhigte es mich zu sehen, dass es außer mir noch Menschen gibt, für welche das Problem existiert. - Wie diese Bedeutung aussehen sollte und wie man das alles in Angriff nehmen könnte - davon hatte ich keine Ahnung; der Ansatz dazu ergab sich dann ein paar Monate später quasi von selbst; mein einziger aktiver Beitrag bestand darin, energisch zu einer Reise ins Unbestimmte (mit provisorisch formuliertem Ziele) aufzubrechen und mich dabei durch verschiedene diffuse Ahnungen leiten zu lassen (immerhin machte sich in jenen Monaten ein ganz ausgeprägtes inneres Tastvermögen geltend).

G'sagt sei noch, dass das schreibende Herumtasten an diesen Fäden mich erfrischt; trotz Bildschirm.

Der soziale Körper, in welchen diese Ahnungen sich hineintasteten, war spröde, unentwickelt; sonst hätte das Weitere ganz anders ausgesehen. Man stelle sich nur vor, K. hätte meinen Brief verstanden (schon gar nicht davon zu reden: dass die Dinge, an denen ich da ahnend herumtastete, zu jener Zeit bereits Gemeingut waren; das waren sie nicht; hätten es aber sein können, wenn das Steiner‘sche Gedankengut in richtiger Weise aufgegriffen worden wäre, da sie sich aus selbigem - wie ich erst viel später verstand - unweigerlich und ganz logisch ergeben). Ich war nicht mehr in dem gleichen krüppelhaften Zustand wie zweieinhalb Jahre zuvor, als ein anderer Brief von mir solcherart von jemandem - ich meine Frau L. - verstanden wurde und als diesem Verstehen auch Taten folgten; damals war ich 'n Krüppel und brauchte Hilfe. Das verstand Frau L. sehr gut; doch witterte sie hinter den verworrenen Zeilen meines Briefes den - wie sie sich ausdrückte - «Menschen mit Schicksal». Sie hatte diese Witterung; denn sie war - trotz aller Anthropotantenhaftigkeit - selbst ein Mensch mit Schicksal («ein Genie kann nur von einem Genie erkannt werden», hab ich irgendwo bei einem deutschen Klassiker - weiß nicht mehr, bei wem - gelesen); das Anthropotantenhafte war ihre ganz spezifische Krüppelkomponente; so wie ich meine eigene, spezifische - nur stärker ausgeprägte - Verkrüppelung hatte. – K. konnte das nicht; als ich den, Jahre später, in Moskau kurz kennenlernte, durfte ich mich überzeugen, dass das 'n ganz gewöhnlicher macht-und karriereorientierter anthroposophischer Beamter ist.

Es drängt mich, die weit zurückliegende Bliestorf-Episode noch etwas näher zu beleuchten. Allen Beteiligten war klar, dass ich keine spürbare Hilfe für das Heim sein werde; und Frau L. sah auch nicht darin den Sinn, sondern darin, mich flott zu kriegen. (vorhin fiel mir ein: Hätte ich ein Foto von ihr, so würde ich mir das über den Schreibtisch hängen): Ich war selber ein Hilfebedürftiger. Das ging ja da dann in der Tat recht zügig; und im Frühling 1976 kam dann notgedrungen der Moment des Abschiednehmens: In der festgefügten Struktur des immerhin recht großen Bliestorfer Heimes wäre es mir nicht möglich gewesen, meinen Platz zu finden; meine Fähigkeiten lagen offensichtlich mehr in der Betreuung von Halbwüchsigen denn in der von Kindern; vielleicht auch, dass es nicht richtig gewesen wäre, an dem Ort, an dem man sich vom Krüppeldasein so einigermaßen aufrichtete, nun in anderer Funktion weiterzumachen; kurzum: der Abschied war angesagt; und durch Vermittlung der unermüdlichen Frau L. landete ich denn auf dem Sonnenhof. Hier hätte es nun - den vorhandenen Möglichkeiten nach - zügig weitergehen können; wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, besteht für mich kein Zweifel, dass ich mich dort gar sehr nützlich hätte machen können.

Der Sonnenhof-Chef J. war nun etwas anders gelagert als Frau L. J war das, was ich heute als typischen Anthroposophen bezeichnen würde; mit dem für diesen Menschenschlag bezeichnenden Horror vor Individualität, vor «Menschen mit Schicksal». An eine Frau W. kann ich mich auch noch erinnern; und spürte man bei J. selbst noch gewisse Durchbrüche von Individualität, so war diese Frau W., die weitgehend den Ton angab, eine individualitätslose Anthropotante reinsten Wassers. Diese beiden gaben den Ton an. (Anders Frau J., die ich in sehr angenehmer, positiver Erinnerung habe. Frau J. hielt sich unauffällig und still im Hintergrund) Als ich, nach meiner Ankunft, mit besagter Frau W. so 'ne Art kleineren Aufenthaltsraum betrat, saß da ein etwas langhaariger jüngerer Mensch. Frau W. stutzte und sagte dann in strengem Ton, das sei kein Praktikantenzimmer; worauf der junge Mann sich kleinlaut erhob und den Raum verließ. - Dass das Verhalten von Frau W. in dieser Situation, ja nu, nicht ganz adäquat war, verstand ich erst viel später. Damals verstand ich überhaupt nichts; hatte nur, wie ich mich erinnere, Anklänge eines gar merkwürdigen Gefühls. - Besagter junger Mann war der damals bereits in Ungnade sich befindende R.

Mit den Zöglingen und auch mit R. entwickelte sich dann sehr schnell ein sehr guter Kontakt; es zeigten sich interessante Einsatzmöglichkeiten; und hätte man uns gelassen, so hätten R. und ich sehr gute Arbeit leisten können und wären darüber auf die Beine gekommen (auch R. hatte selbiges nötig). - Aber man ließ uns nicht. R.'s Situation war, als ich eintraf, bereits unhaltbar; und die meine stand von Anfang an auf wackligen Füßen.

Warum J. mich nicht mochte - wusste er selbst nicht zu formulieren. Ein interessanter Vorwurf, den er mir gegenüber aussprach, verdient festgehalten zu werden; und zwar warf er mir Grimmigkeit und Mangel an Humor vor. Besagten Mangel an Humor hatte er vor allem während der steifen Morgenkreise festgestellt. Diese Morgenkreise begannen so, dass Herr J. auf seinem Stuhle saß; und dann kamen die Leute nach und nach herein, gaben ihm die Hand und setzten sich. Wie ein richtiger Monarch. Schon allein dies machte mich ratlos; wennauch ich damals - im Gegensatz zu heute - die Absurdität und Komik dieser Situation nicht in ihrer ganzen Plastizität empfand. Alles in allem machte ich diese Morgenbegrüßung nicht mit; ich wäre mir lächerlich dabei vorgekommen. Ich betrat den Raum, begrüßte alle Anwesenden - darunter auch Herrn J. - mit einem allgemeinen «Guten Morgen» (oder so) und setzte mich. (dass ich damals spürbar ein Ritual störte und gar als Rebell wirkte, war mir damals nicht bewusst; doch zwei Jahre später traf ich Ch., den damaligen Landwirt, wieder; und der sagte mir, er hätte das damals sehr bewundert, dass ich dem J. die Hand nicht gab; und hätte auch sofort verstanden, dass ich nicht lange dort sein werde) Zur Humorlosigkeit also. - J. warf mir vor, dass ich bei diesen Morgenkreisen zu grimmig bin und zu verschlossen. Wenn ich wenigstens mal einen richtigen Witz reißen würde... Wie man in dieser künstlichen Situation von Herzen einen Witz reißen könnte, ist mir auch heute nicht verständlich; und zudem zweifle ich nicht daran, dass selbiges sehr ungnädig aufgenommen worden wäre.

Wie dem auch sei: Die auf dem Sonnenhof offensichtlich veranlagten Möglichkeiten konnten nicht genutzt werden; stattdessen begann - für R. wie für mich - sinnloses Vagabundieren. Für mich begann das - wenn ich mich recht erinnere - so anderthalb Monate nach Eintreffen; R. war schon vorher gegangen oder gegangen worden. Ich selbst kam dem Gegangenwerden zuvor; setzte mich, als ich sah, dass nichts mehr zu machen ist, auf eigene Faust ab.

Dann kam erst mal wieder Progy . Ich hatte per Brief dort für R. um Obdach gebeten; doch R. brauchte das dann nicht. Dafür nutzte ich es selbst.

Ich kann mich noch erinnern, wie ich auf dem Weg dorthin mein Audi durch Wangen im Allgäu steuerte und von der Höhe aus den Bodensee erblickte. Damals konnte ich nicht wissen, dass diese Gegend ein Jahr später eine Zeitlang zu meiner engeren Heimat gehören würde...

Sinnloses Herumhängen also im Progy[1]; von dort dann Bekanntschaft mit Achberg (was erst ein Jahr später aktuell werden sollte). - Das hing alles irgendwie miteinander zusammen; doch hätte man es sicher bei adäquatem Verhalten von J. ganz anders und viel kraftvoller nutzen können. - Das sinnlose, hoffnungslose Herumhängen im Progy war schon sehr dazu angetan, die inzwischen errungene Befreiung wieder abzudämpfen.

Später landete ich dann in Delsbo, einem heilpädagogischen Heim in Schweden, wo ich - wie ich spürte - ganz sicher nicht hingehöre; all dies war mehr ein Lavieren. In Delsbo war man recht fair und entgegenkommend; dass ich trotzdem nicht Fuß fassen konnte, lag nicht an ihnen, sondern daran, dass - wenn man so sagen kann - das Schicksal es mir nicht erlaubt, mich dort einzurichten; dass ich andere Aufgaben habe. Die Winde zogen sich zusammen und blähten die Segel - ohne, dass ich das damals schon gemerkt hätte - Richtung Russland. (merken tat ich damals allerdings, dass mein - damals noch recht wenig ausgeprägtes - Russisch eine Art Eifersucht gegen mein - unumgängliches - Schwedischstudium entwickelte. Hatte aus damals unerfindlichen Gründen dem Russisch gegenüber ein schlechtes Gewissen)

Nach Schweden landete ich dann wieder vorübergehend in Bliestorf (wollte nach München, um Eurythmie zu studieren; wennauch keine Ahnung habend, wie man sowas finanzieren könnte). Blieb dort für ein paar Wochen; strich die streichbedürftigen Fenster; und schließlich finanzierte Frau L. mir ein Gaststudium in der Kunst-Studienstätte Ottersberg.

Und dann - wegen schwerer Erkrankung meines Vaters - nach Luxemburg. Die Reise nach Luxemburg und der Aufenthalt dortselbst war ein Knotenpunkt, der so oder so aktuell worden wäre; und auch die anschließende Achberg-Phase schien vorveranlagt; denn hier lag das Sprungbrett für das Weitere, darunter, auf längere Sicht, auch für Russland. Nur die Monate dazwischen hätte man sicher - für alle Beteiligten - fruchtbarer gestalten können.

Bin vom Thema abgekommen; aber ich hab inzwischen schon so viel geschrieben, dass es wohl nicht unbedingt angebracht ist, den Faden weder aufzugreifen. Hab ja anderes zu tun… - Nichtsdestotrotz: Manchmal scheint es sinnvoll, solche biographischen Exkursionen zu unternehmen; irgendwas erfrischendes und Befreiendes hat das an sich.

Tagebuchnotizen Moskau August 1993

Weit weg bin ich von allem Künstlerischem, Erhabenem, Großem; und wenn ich die Ergüsse derjenigen lese, die sich in selbigem ergehen, so hab ich fast immer das Gefühl: dass die nicht viel näher dran sind als ich; dass sie nur größere Leichtigkeit haben, sich selbst und anderen was vorzumachen. Der einzige Überrest eines elementaren Zugangs zur Wirklichkeit, der mir geblieben ist, ist ein gewisses Gespür für Redlichkeit bzw. für deren Fehlen in der Sprache. Ansonsten: Nebel. Zeitweise kann ich ihn etwas vertreiben.

Vorgestern meinte J.: Mitteleuropa habe eine gewaltige Schuld auf sich geladen. Die Russen könnten eigentlich nicht schuldig werden. Das sei ihm in der letzten Zeit aufgegangen. - Ich sehe das auch so. Da drüben schlafen sie sich dem Abgrund entgegen; und diejenigen, die weniger schlafen, sind sogar noch schuldiger als diejenigen im Tiefschlaf. R, der kleinkarierte Geizkragen, der trotz seiner Kleinkariertheit manche Dinge recht gut sieht, der aber nicht handelt, weil er geizig ist und feige und alles, was seine heile Welt stören könnte, mit großem Geschick verdrängt. – Noch kann er verdrängen. Irgendwann werden die Wellen über ihm und seinesgleichen zusammenschlagen; und dann werden sie gar sehr staunen.

Ich habe keinen Fernseher und lese kaum Zeitung. – Was wirklich vor sich geht erfährt man da eh kaum. – Nun gut, man erfährt, dass hier und dort geschossen wird und sonst noch einiges an Fakten; an sich wäre es wichtig, hier mehr auf dem Laufenden zu sein; die Hintergründe von all diesem Geschehen verschwinden hinter einem Wust zusammenhangloser Information, die nur verwirrt. Vielleicht soll sie das auch...

Vor ein paar Tagen wartete man gebannt auf irgendeine sich ankündigende Katastrophe. – Die Katastrophe ist da; man braucht nicht auf sie zu warten. Sie entwickelt sich schleichend. Panzer braucht sie keine, um sich zu verwirklichen. Ihre Waffe ist der immer dichter werdende Nebel.

Heute früh beim Aufstehen träumte ich: Wie schön es wäre, sich eine Waschmaschine kaufen zu können und in sauberen Klamotten herumzugehen. Und auch das Zimmer richtig einzurichten. Die Wände mit Holzvertäfelung; ein Hochbett; einfaches Mobiliar aus hellem Holz. Das wäre doch was; nich? Vielleicht würde ich mich in einer ansprechenderen Umgebung auch wohler fühlen und könnte besser Aktivität entfalten? Hä?

Geld habe ich keins. Wenn ich welches hätte, würde ich das ganz sicher in dieser Richtung verwenden. – Man wird mit der Zeit doch auf so 'ne Art häuslich... – Im Moment hab ich nicht mal Kraft, Staub zu saugen. Einfach: Keine Kraft. Gelähmt. - Es kam ein Fax von ama; ich muß mich drum kümmern. Allein sich aufzuraffen, den Telefonhörer abzunehmen - welch Maß an Überwindung! – Auf diesem Kanal könnte man unter Umständen sogar was verdienen. Ich muß auch was verdienen; so kann das nicht weitergehen! Ich muß energisch handeln. Und auch an mich denken; und sogar sehr! Wenn anderen nicht an mich denken, muß ich es selbst tun. Schön wär's: Sich mit ganzer Energie einer Sache widmen, ohne dauernd sich fragen zu müssen: Was springt dabei für mich selbst raus? – Was dabei rausspringt, wenn ich nicht an solches denke, zeigt die "Krefelder Variante"...2)


1) Eine Wohngemeinschaft in der Ostschweiz. - Wie ich mit Unterstützung meiner „humorbegabten Dämonen“ erstmals dort und später auch in Achberg landete sowie Näheres über die "humorbegabten Dämonen“ siehe hier

2) Näheres zu dieser Veriante siehe "Bewusstseinsentwicklung und partnerschaftliche Zusammenarbeit"

Raymond Zoller