Eingang Klamurke Libellen

Von lebenden
und von eingegossenen
Libellen

Wiedersehen mit den Libellen

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Mein aus den Archiven des „Jedermann“ erhaltener Artikel „Kultur – was ist das?“ war mitsamt der nachträglich verfassten Vorbemerkung bereits online, als Georges, in Madrid lebend, in die Schweiz reiste, weil er in seiner Basler Wohnung zu tun hatte. Hier hatte er auch sein Archiv; und in diesem Archiv, neben vielem anderem, unsere „Libellen“. Die scannte er nun ein, und wenig später durfte ich sie, nach langjähriger Abstinenz, wieder anschauen.

Nach und nach tippte ich das dann ab und veröffentlichte es online.

Raymond Zoller
am 6. Juli 2021

Die „Libellen“ sind um einiges besser, als ich sie in Erinnerung habe; und sogar viel besser, als ich damals selbst verstand.

Immerhin eine interessante Dokumentation, wie zwei Zeitgenossen sich gegenseitig helfen, im Trümmerfeld der Mitteleuropäischen Kultur sich zurechtzufinden.

Georges Raillard
am 13. Juli 2021
[Kommentar zur anlaufenden online-Veröffentlichung]

Das liest sich gut! Hoffe, es gibt Interessenten! Für mich waren die "Libellen" im Rückblick so eine Art Zwischenbilanz. Gedanken, die vorher eher diffus und unzusammenhängend in meinem Kopf herumgeschwirrt waren, konnte ich erstmals zusammenführen, gewissermaßen bündeln und deutlicher herausarbeiten. Danach ging es anders weiter, aber die "Libellen" blieben eine Basis.

Raymond Zoller
am 14. Juli 2021

An die „Libellen“ hatte ich nur noch eine ganz diffuse Erinnerung. Und war nun, ein Vierteljahrhundert später, erstaunt, mit welcher Energie, mit welcher Klarheit wir uns damals auf das zubewegten, was „Sache“ ist.

Ich blieb ja dabei[1]; und verstehe inzwischen mit letzter Sicherheit, daß das, was für uns „Sache“ war, auch für jenen Steiner und jenen Witzenmann „Sache“ ist, und daß man ohne Erkennen und Wegräumen des seelischen Schrotts im Grunde gar nicht verstehen kann, was der Steiner eigentlich meinte. Mit zunehmender Klarheit ergab sich für mich zunehmende Distanz von den „regulären“ anthroposophischen Kreisen. Aber nicht von Steiner und Witzenmann. […]

Ich denke schon, daß sich Interessenten finden. Die Probleme, mit denen wir uns damals rumschlugen, sind leider nach wie vor aktuell; nur daß inzwischen das Chaos sehr viel schlimmer wurde.

Ich häng noch einen letztes Jahr verfassten Erfahrungsbericht an, der gewissermaßen in der Linie unserer „Libellen“ liegt[2]


1)Gemeint: ich blieb bei Steiner. Mit seiner Bemerkung „daß es dann anders weiterging“ meinte Georges, daß es bei ihm, unter anderem, ohne Steiner weiterging.

2)Findet man hier: In Alltagsabsurdität steckengebliebene Tugenden

Georges Raillard
am 18. Juli 2021

Interessant deine Schilderung des Nicht-Zustandekommens der Übersetzung und Herausgabe der Witzenmann'schen Werke auf Russisch[3]. Ich erinnerte mich, dass sie an mangelndem Interesse v.a. westlicher anthroposophischer Kreise scheiterte. Dass der Novalis-Hochschulverein eine so unrühmliche Rolle spielte, wusste ich nicht, überrascht mich aber auch nicht. Damals in M., als wir die "Libellen" redigierten, kamen wir ja im Haus eines Mitglieds dieses Vereins unter, und während unserer Anwesenheit wurde dort irgendeine Zusammenkunft oder Tagung abgehalten - vermutlich nahmst du daran teil und war dies überhaupt der Grund, dass wir uns dort trafen. Das Ambiente während dieser Zusammenkunft und in diesem Grüppchen dünkte mich freilich extrem bemüht, unnatürlich und abgehoben, in so scharfem Kontrast zu unserer Zusammenarbeit und unserem "Libellen"-Projekt wie stickige Luft in einem überheizten Raum zu frischen Windstößen in freier Natur.

Die Auseinandersetzung mit den Schriften Rudolf Steiners, hauptsächlich den philosophischen, trug erheblich dazu bei, dass ich mich aus der starken identitären Vereinnahmung, in der ich aufgewachsen war, durch Ermächtigung eigenen Fragens und Denkens lösen konnte, zuerst innerlich, dann auch äußerlich.

Ein paar Jahre lang ließ ich mich auch auf anthroposophische Inhalte ein, wie sie Steiner in späteren, mehr Offenbarungscharakter tragenden Schriften und Vorträgen darlegte. Sie bildeten ein scharfes, darum umso attraktiveres Kontrastprogramm zur Gedankenwelt, die mich in meiner Kindheit und Jugend umfangen hatte. Darunter waren in der Tat viele interessante Anregungen und Ideen, aber ich merkte dann, dass ich Gefahr lief, mich wieder in einem geschlossenen Gedankensystem samt vereinnahmender Bekenner- und Anhängerschaft zu verfangen, wenn ich mir all diese Ideen wirklich zu eigen machte.

Heute halte ich Anthroposophie, in ihrem Anspruch eines alle Welten und Zeiten umspannenden und den gesamten Menschen durchdringenden Antwort- und Urteilssystems, für totalitär.

In jener Zeit las ich auch einige Sachen von Herbert Witzenmann, vermutlich auf Anregung von dir, ich erinnere mich nicht mehr genau. Das waren herausfordernde Lektüren; allein schon durchs Lesen und die Versuche, die schwierigen Gedankengänge nachzuvollziehen, wurde das Denken geschärft. Wahrscheinlich lag für mich die Bedeutung auch hier weniger auf den Antworten, zu denen er gelangt, als auf dem Denkübungscharakter seiner Schriften. Ich habe in Basel von ihm noch ein schmales Bändchen mit dem Titel "Was ist Meditation?" stehen, das ich damals mit Gewinn las; ich muss mal wieder reinschauen.

Er war ja ein blendender Denker und Formulierer. Oft konnte ich mich allerdings nicht des Eindrucks erwehren, er gefalle sich etwas gar sehr in seinem Denk- und Formulierungsglanz. Seine Gedankengänge, von so lückenloser Stringenz, dass zwischen sie kein Blatt passte, wirkten dann oft einschüchternd, erschlagend, eigentlich autoritär auf mich.


3)Siehe oben erwähnte „In Alltagsabsurdität steckengebliebene Tugenden

Raymond Zoller
am 19. Juli 2021

Wie ich nun, fast vierzig Jahre nach Verfassen und Veröffentlichen dieser Libellen, das alles noch einmal durchlas, wunderte ich mich, wie klar wir doch damals die Probleme bereits formulieren konnten. Und daß wir uns im Grunde energisch auf etwas zubewegten, was auch für Steiner und Witzenmann „Sache“ ist, und daß wir zum Teil eben von den Steiner- und Witzenmann-Jüngern am wenigsten verstanden wurden.

Und daß unsere Arbeit an den „Libellen“ im Grunde eine keimhafte „Erkenntnisgemeinschaft“ ist, wovon manche Anthros mitsamt Witzenmännern so gescheit reden, ohne häufig eine Ahnung zu haben, was das ist. [Als Feststellung, nicht als Vorwurf. Ausnahmen sind ausdrücklich nicht gemeint]

Inzwischen verstehe ich aber auch: Steiner kann wesentliche Hilfestellung leisten, an das, was „Sache“ ist, in aller Freiheit sich heranzubewegen.

Wo aber diese Hilfestellung zur Dogmatik wird, ergibt sich ein gegenteiliges Resultat: statt innerer Befreiung verschafft man sich mehr Möglichkeiten, innere Unfreiheit vor sich und anderen als Freiheit zu deklarieren. Nicht jeder schafft es, sich in solcher Verhedderung behaglich einzurichten; der geht dann halt auf Distanz zu den bewusstlos verhedderten, und mitunter auch von Steiner.

Auch Steiner selbst hat diese Gefahr gesehen und immer wieder darauf aufmerksam gemacht. Wurde aber nicht verstanden.

Selbst stieß ich ja auf Steiner vom Atheismus her, wo ich mich mit einigen mich quälenden Fragen herumzuschlagen hatte. Eben in Zusammenhang mit diesen Fragen wurde mir deutlich, daß das ein ernstzunehmender Denker ist.

Frömmelndes oder theoretisierendes Herumgeisteln ist mir zuwider. Als ich mich dann stärker mit Steiner beschäftigte, rutschte ich ab und zu da rein; aber immer nur vorübergehend. Irgendwann lacht man dann über sich selber und überlässt das Gegeistel denjenigen, die sich darin wohlfühlen…

[…]

Was Steiner und Witzenmann vorbringen ist fundiert; man muß nur immer klar unterscheiden, was man in welchem Grade versteht. Und wo man nicht genügend versteht: den Mund halten. Und selbst wo man genügend versteht, um etwas aussprechen zu können: Trotzdem den Mund halten und klar abschätzen, worüber man mit wem sprechen kann.

Letztere Fähigkeiten habe ich inzwischen entwickelt.

Den Witzenmann hab ich ein paarmal getroffen; der ist voll in Ordnung. Einmal, bei einem Spaziergang in einer größeren Gruppe, hatte ich ein sehr langes Gespräch mit ihm; worüber, wie ich später erfuhr, der Klaus Hartmann in höchst merkwürdiger Form in einem Buche über Witzenmann berichtete.

Es sei, mitsamt meinem Kommentar, wiedergegeben:

- R. schickte mir ein Zitat aus dem zweiten Band der Witzenmann-Biographie von Klaus Hartmann:

♦♦♦

„Überall dort auch, wo Witzenmann Lasten der Seele oder auch des Schicksals spürte, wandte er sich spontan solchen Freunden zu. So nahm er bei einem Ausflug mit Lothar Udert zu den von Soest aus nahen Externsteinen einmal Raymond Zoller, einen jungen Literaten und Russisch-Übersetzer, der sich sehr für Witzenmanns Erkenntniswissenschaft erwärmt hatte, in den Arm und ging mit ihm ein ganzes Stück des Weges auf die Steine zu, indem er ihm zuhörte und innerlich bewegt auf ihn einsprach. Udert, der sich für seine Studenten immer auch menschlich einsetzte, war ganz ergriffen von Witzenmanns Geste. - In einigen Situationen wirkte Witzenmann auch durch sein Vertrauen Wunder, so wenn er einen jüngeren Menschen zu seinem Mitarbeiter machte und dadurch seinen Kräften zu angemessenem Ausdruck verhalf.“ (S.487/488)

♦♦♦

- An das Gespräch kann ich mich erinnern; det war sehr lebendig. Man verstand sich.

Aber doch sehr nett geschildert in jenem Buche.

Ich häng dir noch eine längere Skizze zu meiner weltanschaulichen Entwicklung an[4], wo auch mein Distanzierungsweg von den anthroposophischen Kreisen ansatzweise erläutert ist.


4)Findet man hier: Skizzenhafter Überblick über meine weltanschauliche Entwicklung

Georges Raillard
am 23. Juli 2021

Ein Grund für das Sektierertum im Nachvollzug Steiner'scher (und anderer) Ideen liegt meiner Ansicht nach darin, dass man über alles so urteilen zu können glaubt, als wären es physikalische Gegenstände wie ein Stein oder so etwas Ähnliches, die den Naturgesetzen unterworfen sind und deren Verhalten man berechnen und vorhersagen kann. "Der Stein ist so und so" kann man gut sagen, denn der Stein verhält sich entsprechend den Naturgesetzen und wird sich nie anders verhalten. Wenn man aber von einer Person sagt: "Sie ist so und so", dann urteilt man über sie in einer Weise, als wäre sie, gleich wie der Stein den Naturgesetzen, in ihrem Verhalten nichts als irgendwelchen stets auf sie anwendbaren Gesetzen unterworfen, was jedoch eine festlegende, jede Entwicklungsmöglichkeit negierende, darum übergriffige Zuschreibung ist. Eine Person ist stets im Fluss und zu Selbstentwicklung fähig.

[…]

Die Schilderung deines Gesprächs mit Witzenmann in jenem Buch klingt schon recht paternalistisch, so von oben herab... Aber das mindert zum Glück nicht den Wert, den das Gespräch für dich persönlich hatte.

Raymond Zoller
am 25. Juli 2021

Daß im Zuge geistiger Befreiungsversuche die eine Fremdbestimmung häufig bloß durch eine andere ersetzt wird, ist leider eine traurige Tatsache. Darauf hat auch schon der Steiner wiederholt aufmerksam gemacht und wurde, leider, nicht verstanden.

Ich hatte völlig vergessen, daß wir damals unseren erfrischenden Libellenflug in Gesellschaft von hochgescheiten Witzenmann-Schülern redigierten. Mit ebendiesen Leuten habe ich schon seit Langem keinen Kontakt mehr. Im Durchschnitt: selbstverliebte Welterretter; in permanentem Konkurrenzkampf untereinander, wer denn nun der Klügste ist, und in hochnäsiger Überheblichkeit gegenüber all den anderen ringsum.

Eigentlich waren wir mit unserem Libellenflug der eigentlichen Steinerei viel näher als diese hochweisen Tagungshengste… Damals wusste ich das nicht; jetzt weiß ich es und finde es umso amüsanter, daß wir die Libellen unbemerkt eben in diesem Umfeld zusammenstellten.

♦♦♦

Daß die Schilderung meines Gesprächs mit Witzenmann so patriarchalisch klingt, liegt an der patriarchalischen Gesinnung des Verfassers jenes Buches. In Wirklichkeit war er nicht im Geringsten patriarchalisch. Man unterhielt sich auf Augenhöhe und verstand sich.

Witzenmann blickte wirklich gut durch; und – was typisch ist für Leute mit gutem Durchblick – ist nicht im Geringsten patriarchalisch, sondern im Gegenteil äußerst bescheiden. Patriarchalische Gesinnung ist mehr für kleinkarierte Gernegroße.

Für H. und die meisten sonstigen Sozialästheten war ich einfach nur ein Spinner; und so konnte eine Autorität wie Witzenmann in ihren Augen sich mit diesem armen Spinner nur therapeutisch von oben herab unterhalten.

Ich verstand das sofort, als man mir dieses Zitat zuschickte, und war nicht im Geringsten beleidigt; war bloß amüsiert, wie er sich mit seiner „patriarchalischen Gesinnung“ bloßstellt.

Spätfolgen gemeinsamen BemühensGespräch mit Diana

Raymond Zoller