Eingang Klamurke Libellen

Von lebenden
und von eingegossenen
Libellen

Soziale Spätfolgen
gemeinsamen gedanklichen Bemühens

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Nachdem man viele Jahre lang nichts mehr mehr voneinander gehört hatte, erhielt der Herr Chefredakteur Anfang drittes Jahrtausend wieder Post von Georges.

Zu jener Zeit lebte er in Tbilissi, wo er mit einem technischen Projekt beschäftigt war; und Georges hatte unterdessen eine beträchtliche Erbschaft gemacht, die er sinnvoll einsetzen wollte.

Nun kam er denn nach Tbilissi, um zu sehen, wie man dieses hoffnungsvoll begonnene und bereits entwicklungsfähige Resultate zeigende Projekt davor bewahren könnte, durch den „menschlichen Faktor“ zusammenzukrachen.

Trotz finanzieller Zuwendungen war das Projekt auf Dauer aber nicht mehr zu retten; doch dafür kam Georges in Kontakt mit Leuten aus dem Umfeld des Herrn Chefredakteur, die er im Weiteren durch finanzielle Zuwendung vor dem Absacken bewahrte.

Die fünf nachfolgenden zwanzig Jahre später geschriebenen Briefe vor diesem Hintergrund.

Georges Raillard
am 9. Januar 2021

Lieber Raymond,

[…]

Meine früheren Hilfeleistungen betrachte ich mit sehr gemischten Gefühlen. Auf keinen Fall als Heldenepos. Ich war sehr oft viel zu blauäugig und gutgläubig; viel Geld ist bachab gegangen, das sicher viel fruchtbarer hätte investiert werden können.

[…]

Sehr klar wurde auch im Falle Ingas, dass sie sich erst dann zu einem selbstverantworteten Leben aufraffte, nachdem ich meine Zuwendungen eingestellt hatte. Wenn ich etwas gelernt habe, dann dies: Den Menschen Geld nachzuwerfen bringt gar nichts, es ändert sie nicht zum Besseren, es motiviert sie nicht zu einem aktiven, selbständigen Leben, es motiviert sie nur zum Warten auf die nächste mildtätige Gabe. Sie geraten dadurch in eine destruktive, demotivierende Abhängigkeit.

Mit meinen Mitteln kann ich eigentlich nur in sehr vereinzelten konkreten Notsituationen helfen - wobei hier natürlich auch Manipulationen möglich sind, wie wir ja im Übermaß gesehen haben, so dass man auch hier sehr genau prüfen muss. Oder in einem ganz überschaubaren Rahmen, wie zum Beispiel dem Behinderten, dem ich die Wohnungsmiete zahle, aber nicht mehr. Helfen kann man eigentlich überhaupt nicht, nur unterstützen, wo und wenn jemand sich selber helfen will.

Herzliche Grüße aus dem verschneiten Madrid

Raymond Zoller
am 9. Januar 2021

Lieber Georges,

[…]

Ich werde jenen Aufsatz erst mal als Dokumentation meines publizistischen Anlaufs in die Klamurke tun; und als möglichen Anlauf für eine gemeinsame Dokumentation der Folgen. Wie wir das machen könnten und wie weit es sinnvoll ist – weiß ich noch nicht. Aber irgendwas Interessantes ist da dran.

Auf keinen Fall als Heldenepos. Und auch nicht als Vorwurf gegenüber denjenigen, die dich ausnutzten.

Inga hat dich ganz sicher ausgenutzt. Das weiß sie jetzt selbst, und gibt es zu. Sie hat sich total verändert; und ich würde nicht einmal ausschließen, daß sie auch über die „Ausnutzmomente“ schreiben würde, wenn sie sich schriftlich beteiligen würde.

Aber andererseits muß man berücksichtigen, daß sie nur dank deiner Unterstützung die Möglichkeit hatte, sich in Ruhe so weit zu entwickeln, daß sie die Überreste ihres unfreiwilligen Aufenthalts im Kriminellenmilieu abstreifen konnte und rückblickend ihr fragwürdiges Verhalten als solches erkennt.

Bei Inga hätte man damals in der Tat die Zuwendungen strenger regeln müssen; deine Großzügigkeit machte sie leichtsinnig. Auch den Leichtsinn hat sie inzwischen überwunden; die letzten Zuwendungen, um die sie bat, waren – soweit ich das beurteilen kann – wirklich nötig; und sie begründete auch genau, wieviel sie wofür brauchte.

Was ohne deine finanzielle Unterstützung aus mir worden wäre – weiß ich nicht. Besser nicht daran denken. So konnte ich erst mal in Ruhe gemeinsam mit Jemal Arbeitszusammenhänge aufbauen; was ihn aus seiner Lethargie herausriss und uns beide weiterbrachte. Ich selbst bat dich immer nur dann um Hilfe, wenn es anders nicht mehr ging.

Wie es mit den anderen lief – weiß ich nicht. Vielleicht war auch J. zeitweise nicht ehrlich; aber klar ist, daß er es ohne deine Hilfe nicht geschafft hätte, auf die Beine zu kommen.

Falls wir die gemeinsame Entwicklungslinie schreibend herausentwickeln würden, denke ich an – außer dir und mir – Jemal, Inga und Igor. Elena – die ohne deine finanzielle Zuwendung vor die Hunde gegangen wäre – möchte ich nicht behelligen.

Aber alles mit der Ruhe…

Schließlich hatte ich dann eigenes Geld. Und wurde teilweise auch ausgenutzt.

Bei mir war das so, daß ich aus eigener Erfahrung wusste, wie hilflos man ohne Geld ist; deshalb half ich. Ein paarmal überwies ich größere Summen an Elena nach Tbilissi; das finde ich so in Ordnung; sie brauchte das, um auf die Beine zu kommen, und um das Geld tut es mir nicht leid. Auch sonst half ich kreuz und quer in Notfällen aus mit kleineren Summen; mal berechtigt, mal – wie ich erst später verstand – wurde ich ausgenutzt. […]

Aber irgendwie doch interessant, ein paar Stränge aus den Entwicklungslinien seit deinem Leserbrief näher zu betrachten

Raymond Zoller
am 10. Januar 2021

lieber Georges,

[…]

Heute hatte ich wieder ein langes Messenger-Gespräch mit Inga und verstehe nun einiges besser als vorher. Ich habe ihr auch von dem anlaufenden Versuch mit der Veröffentlichung gesprochen; sie macht mit.

Sie schickte mir ein Foto, auf dem sie 13 Jahre alt ist. Hängt an. Das war in der Zeit, als sie von jenem Kriminellen vergewaltigt wurde und von ihm, im Verein mit ihrer nicht kriminellen, aber hochdämlichen Verwandtschaft, zur Ehe gezwungen wurde; und dadurch, ohne es zu wollen, im Kriminellenmilieu landete.

Als Kind und als Halbwüchsige verstand sie überhaupt nichts; dachte aber, daß das alles wohl normal ist, da für ein Kind die Erwachsenen ja immer Recht haben.

Später spürte sie dann nach und nach, daß mit ihrer kiffenden und saufenden Umgebung irgendwas nicht stimmt; aber sie konnte zunächst nichts machen und verstand auch noch zu wenig. Nur gegen Rauschgift und Alkohol entwickelte sie klare Allergien. Während der Zeit unserer Bekanntschaft in Tiflis war mir gar nicht aufgefallen, daß sie keinen Alkohol anrührt. Aber das war so.

Auch gegen die stumpfsinnigen georgischen Traditionen hat sie eine Allergie entwickelt; es ist ihr klar, daß der Typ, der sie damals vergewaltigte und zur Ehe zwang, in einem zivilisierteren Land nicht vor dem Traualtar, sondern hinter Gittern gelandet wäre.

Wir sprachen auch darüber, wie sie dich eine Zeitlang ausnutzte. Das tut ihr nun leid; aber es ist verständlich, da von ihrem einstigen kriminellen Milieu noch eine gewisse „Grabschmentalität“ übriggeblieben war. Die ist jetzt weg.

Sie zog sich mit ihren Kindern aus dem Milieu zurück, hauste in Tbilissi in einer winzigen Wohnung und verdiente ihren Lebensunterhalt als Serviererin in der Kneipe von Timur. Sich aus diesem Wust zu befreien war schwierig, da die Verhedderung in den Traditionen und den Gepflogenheiten des einstigen Milieus nicht so leicht abzuschütteln waren. Außerdem hatte sie – was ich erst heute erfuhr – dauernd Angst, ihr Mann könne sie umbringen. Irgendwann wurde der dann von seinen kriminellen Kollegen selbst ermordet; und von da ab fühlte sie sich freier.

Eigentlich hat sie durch dieses Sichherauswinden eine beachtliche Leistung vollbracht, zu der nicht jeder in der Lage wäre. Das sagte ich ihr auch. Sie antwortete, daß sie das nur schaffte, weil sie durch die Gespräche mit mir auf neue Gedanken kam, und weil sie durch deine Unterstützung sich freier bewegen konnte. Was mich betrifft, so schwächte ich ab: daß sie immerhin gemerkt hat, daß meine Gedanken sie weiterbringen können; es gebe genug Leute, die mich eher für einen Spinner halten.

Nee, die hat mit ihrem Herauswinden wirklich was geleistet; besonders nach dem heutigen Gespräch wurde mir das deutlich.

Georges Raillard
am 24. Januar 2021

ja, das waren noch Zeiten, liegt alles recht fern... Ich hab damals eine Kopie deines Artikels an ein Mädchen gesandt - eine Fotokopie in einem Briefumschlag per Post, wie in jener technologisch grauen Vorzeit üblich. Das Mädchen ließ sich davon allerdings nicht im gewünschten Masse beeindrucken, was wohl weniger an deinem Artikel als an meiner mangelnden Überzeugungskraft lag...

Igor ist recht eloquent, auch auf Englisch. Seine Mails sind immer viel länger als meine Antworten... Er könnte sicher Interessantes beisteuern.

Von Jemal habe ich seit mehreren Wochen nichts mehr gehört. Er hatte eine Präsentation im Rahmen seiner Abschlussprüfungen und wollte mir die entsprechenden Texte schicken. Bis jetzt kam noch nichts. Er ist immer voll im Einsatz mit Korrepetitionen, Begleitung von Gottesdiensten u.Ä., kurz: um genug Geld zu verdienen. Seine Frau steckt ja noch mitten im Studium und hatte, laut meinem letzten, nicht taufrischen Kenntnisstand, noch kein ausreichendes Englischniveau, um in den Genuss eines vollständigen Stipendiums zu kommen.

Weder Jemal noch Igor haben mich damals übrigens in böser Absicht ausgenutzt oder abgezockt. Was aber sicher der Fall war, ist, dass das Wissen darum, dass ich ihnen unter die Arme greifen würde, sie leichtsinnig machte und sie Risiken eingehen und Geschäfte mit ungewissen Aussichten anfangen ließ, die sich später als illusionär herausstellten. Und selber verstand ich ja auch nichts von solchen Geschäften, konnte ihre Vorhaben und deren Chancen nicht abschätzen. Auch da ging viel Geld verloren...

Erfreulich, dass Inga sich so positiv entwickelt. Was ich allerdings bis heute nicht verstehe: Warum sucht(e) sie nie Kontakt zu anderen Frauen oder zu Frauenorganisationen oder Frauennetzwerken, die ihr zureden oder sie beraten könnten oder wo sie sich einfach mal mit Schicksalsgenossinnen austauschen und neue Perspektiven gewinnen könnte? Sie wird ja mit ihrem Schicksal alles andere als ein Einzelfall sein. Ich habe ihr das vor einigen Jahren mal nahegelegt, suchte sogar im Internet nach entsprechenden Organisationen und Adressen. Aber sie wollte nichts davon wissen. Lieber ließ sie sich weiter von mir Geld schicken, als sich helfen zu lassen...

Raymond Zoller
am 25. Januar 2010

Lieber Georges,

Inzwischen habe ich den Aufsatz „Kultur – was ist das?“ ins Russische übersetzt; wollte die Übersetzung noch stilistisch etwas ausfeilen.

Inga hat sie bereits; und heute hatte ich ein sehr langes sehr interessantes Messengergespräch mit ihr.

Zu meiner Überraschung kann sie sich an viele unserer Gespräche genau erinnern; und selbst an Aussprüche von mir, die sie heute versteht und die ihr damals unverständlich blieben.

Zum Beispiel erinnert sie sich, daß ich mehrmals zu ihr sagte, „sie sitze in ihrer Schale gefangen und traue sich nicht heraus“ (in freier deutscher Übersetzung). Damals habe sie nicht verstanden, was ich damit meine; heute verstehe sie es umso besser.

Und daß ich ihr sagte, „man habe sie in eine Eselshaut eingenäht“. Womit sie mich an ein Bild erinnerte, welches ich lange vor jedem Veröffentlichen geschaffen hatte: daß man mich in eine Eselshaut eingenäht hatte. Ja, das mit der Eselshaut hab ich vor langer Zeit mal geschrieben; und nun erinnere ich mich wieder. Sogar an die ersten Zeilen erinnere ich mich:

„Das Ideal des Menschen ist der Esel. Vielleicht auch der Affe. Da mag einer als Löwe geboren sein – von Jugend auf presst man ihn ins Eselsfell.“

Weiter weiß ich nicht mehr, und der Originaltext ist längst verschollen. Irgendwann in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hab ich das geschrieben. Erstaunlich, wie extrem langsam ich mich da herauswurschtelte und mich entwickelte…

Oder haben wir das mit dem Eselsfell in die „Libellen“ eingefügt?

Inga findet das alles sehr interessant und macht sich ans Schreiben.

Daß deine Bekannte, der du damals den Artikel schicktest, sich nicht beeindrucken ließ, hat vermutlich nix mit mangelnder Überzeugungskraft deinerseits zu tun. Meiner Erfahrung nach bleibt sowas auch heute für all dieses Volks, das sich in der Überbau-Kultur häuslich eingerichtet hat – vermutlich ein beträchtlicher Teil unserer Zeitgenossen – unverständlich. Inzwischen kann ich das alles viel prägnanter formulieren; und verstanden wird es eher noch weniger. Außer halt von verstreuten Einzelnen…

Übrigens glaub ich nicht, daß Inga dich damals bewusst „ausnutzte“: das war einfach verantwortungsloser Leichtsinn, gepaart mit Naivität. Du bist bereit zu helfen; also lässt man sich ausgiebig helfen. An ein geschäftliches Projekt von Jemal kann ich mich diffus erinnern; ich hielt nix davon, und zudem wusste ich, daß Jemal von geschäftlichen Dingen sogar noch viel weniger versteht als ich. Aber dank deiner Unterstützung konnte er es versuchen…

[…]

Sozialästhetisches IntermezzoWiedersehen mit den Libellen

Raymond Zoller