Eingang Klamurke Libellen

Von lebenden
und von eingegossenen
Libellen

Fortsetzung in klamurkischen Zeiten

- Seite 9 -

Raymond Zoller
am 9. Dezember 2020

Lieber Georges,

der heutige Tag begann mit Erinnerungen.

Facebook erinnert daran, daß heute vor 10 Jahren meine Facebook-Freundschaft mit Ernst Tirckl-Wolff[1] begann. Ein denkwürdiger Tag. Außerdem weiß ich nun wieder, daß wir beide im Onkel-Neffe-Verhältnis zueinander stehen. Hatte ich völlig vergessen; und auch jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, kann ich mich nicht erinnern, wer der Onkel ist und wer der Neffe.

Ja.

Außerdem fiel mir auf, daß, unter anderem, Jemal jetzt nicht in den USA an jener Musikhochschule wäre, und daß auch bei manchen anderen das Leben sich ganz anders entwickelt hätte, wenn du mir nicht vor vielen Jahren einen Leserbrief geschrieben hättest auf jenen längst vergessenen Jedermann-Aufsatz, und wenn sich dadurch nicht ein solch eifriger Briefwechsel entwickelt hätte.

In den Anfängen unserer Bekanntschaft lebte Jemal, bei allen Fähigkeiten, in resigniertem Herumlungern. Und er würde vermutlich auch heute noch herumlungern oder wäre längst untergegangen, wenn nicht…

Nach Einsetzen unserer Zusammenarbeit kam er zunehmend auf die Beine, wurde aktiv. Die Zusammenarbeit wurde möglich, weil du mir, nach all den Fehlschlägen und Katastrophen, durch deine finanzielle Unterstützung diese Arbeit in Tbilissi ermöglichtest. Anders hätte ich mich nicht halten und auch anderen keine Hilfe sein können. Jemal und ich wären beide, unabhängig voneinander, vermutlich versauert. Und daß wir uns halten und entwickeln konnten strahlte ja dann auch auf andere aus. Später, als er sich voll aufgerichtet hatte, unterstütztest du ihn ja dann direkt. – Und auch Inga, die ohne ihr Verschulden im kriminellen Milieu gelandet war und sich mühsam da herauswurschtelte. Zeitweise nutzte sie deine Hilfe unverschämt aus; und sie hat sich so gut entwickelt, daß sie heute auch weiß und bedauert, daß sie dich unverschämt ausnutzte.

Dies und vieles andere mehr ausgehend von jenem Leserbrief.

Doch ein interessantes Thema, wie manches Tun weit über den privaten Bereich hinausstrahlt. Meist beachtet man das nicht; mir fällt es manchmal auf.

Von jenen fernen Zeiten habe ich keine Zeile mehr; weder Gedrucktes noch hand- oder maschinengeschriebenes. Ich weiß nur noch, daß ich damals, Anfang der achtziger Jahre, in verzweifelten schriftlichen Selbstgesprächen bemüht war, irgendwas zu kapieren. An dem ersten Aufsatz, der dann im „Jedermann“ veröffentlicht wurde, schrieb ich monatelang; wirres vielseitiges Durcheinander zusammenhangloser Notizen, aus denen sich dann nach und nach ein mehr oder weniger zusammenhängender kurzer Aufsatz herauskristallisierte. Das wurde dann meine erste Veröffentlichung im „Jedermann“; und von da ab ging es leichter. Das waren noch Zeiten…

Monatelang kämpfte ich um Einsichten, die ich heute nebenbei in ein paar knappen klaren Worten ausformulieren kann. Aber ohne diesen verzweifelten Kampf könnte ich das jetzt nicht. Das war meine „Ausbildung“.

Hast du eigentlich noch jenen Aufsatz, auf den du mir den Leserbrief schriebst? Oder gar die „Libellen“? Wenn ja – könntest du mir was einscannen? Dachte daran, eventuell in der Klamurke eine kurze Dokumentation einsetzender Entwicklungen anzulegen.

Die Überweisung ist eingetroffen; vielen Dank. Kann jetzt wieder etwas freier atmen.

Raymond Zoller
am 5. Januar 2021

[…]

Die in den „Libellen“ aufgegriffene Thematik ist, leider, nach wie vor aktuell: Durchschauen der allgegenwärtigen Ideologisierung und eitlen Geschwätzigkeit, und darüber zu seinen eigenen Fragen durchfinden. – Und aus Redlichkeit sich entwickelndes soziales Miteinander.

Die „Klamurke“ ist in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung der Libellen; und nun denke ich: jene Libellen in der „Klamurke“ zu veröffentlichen; und sehen, was sich dabei ergibt.

Und auch die sozialen Konsequenzen der verschiedensten Art berücksichtigen; mit Teilnahme einiger Leute, deren Leben dank diesem Leserbrief ganz anders sich entwickelt hat, als es sonst gelaufen wäre.

Außer dir und mir ganz sicher Jemal, Igor, Inga… Und Elena aus Tbilissi, die ich auch durch einen Leserbrief kennenlernte. Ohne deine damalige Zuwendung wäre sie unter die Räder gekommen.

Nur mal so als Schnapsidee…

Könnte man, wenn wir es aufgreifen und wenn lesbares zusammenkommt, in der Klamurke veröffentlichen; falls sehr gutes zusammenkommt – später vielleicht sogar auf Papier.

So oder so – alles mit der Ruhe, Eile mit Weile…

Aus Neugier hab ich mal online nach dem Wasserburger Café Eulenspiegel gesucht. Das gibt es noch; sogar in Händen der Schilinski-Nachfolge; und sogar den „Jedermann“ gibt es noch; nur daß er heute „Jedermensch“ heißt und nur noch Vierteljährlich erscheint.

Ich werd denen wohl mal schreiben und fragen, ob sie ein Archiv haben, in denen auch noch Nummern aus jenen alten Zeiten zu finden sind.

Und ich weiß nicht einmal mehr, wie jener Artikel hieß, zu dem du mir damals den Leserbrief geschrieben hast…

Von Inga soll ich dir herzlichen Dank ausrichten. Wir unterhalten uns ab und zu per Facebook-Messenger; sie lässt sich durch ihre Einsamkeit nicht kleinkriegen und nutzt die Zeit, um Italienisch zu lernen. Unter anderem auch, um nicht sinnlos herumzuhängen…

Und jetzt werd ich schnell und kurz mal nach Wasserburg schreiben und fragen, ob die ein Archiv haben.


1) Ernst Tirckl-Wolff ward geboren als Held meiner Erzählung „Von Drachen, Stripperinnen und Schornsteinfegern“. – Als ich nach seiner Geburt auf irgendwessen Einladung hin eine Facebook-Seite eröffnet hatte und nicht recht wusste, was ich dort soll, eröffnete ich auch eine Seite für besagten Ernst Tirckl-Wolff und schickte ihm gleich eine Kontaktanfrage. Wir wurden Freunde auf Facebook, begannen aus dem Stand wüste Streitgespräche, in die auch andere sich einmischten; und nach und nach wurde Facebook interessant

vorklamurkische NachbemerkungSozialästhetisches Intermezzo

Raymond Zoller