Beim Lesen deines Briefs an X habe ich mir ein paar Stellen angemerkt, die man, wie mir scheint, veröffentlichen könnte.
Im Hypsopsyllus würde ich eine Seite anlegen für verstreute kurze Notizen zu unserem Thema, und würde zur Einstimmung diese drei Briefzitate reintun. Es gab ja damals auch in den russischen und anderen postsowjetischen anthroposophischen Kreisen Leute, die ihre Kontakte mit den Wessi-Kreisen zur Karrieregestaltung nutzten und in diesem Bemühen gelegentlich und nebenbei einiges kaputtmachten.
***
Die Russen nennen das Jahrzehnt nach dem Zerfall der Sowjetunion «Лихие постсоветские девяностые годы», „die wilden postsowjetischen neunziger Jahre“. – Nach der Befreiung von dem kommunistischen Joch erschien der Westen als ein Paradies. Doch der Westen hatte da längst die Keime seiner Kultur zertrampelt und konnte keine sinnvolle Alternative bieten. Es kam zu wilden persönlichen Bereicherungen, zum Ausnutzen gottgleicher Westkontakte, und so weiter.
Das hinterließ seine Spuren auch in den anthroposophischen Kreisen.
Während der Umbruchphase, noch im Westen lebend und bereits merkend, wo das hinführt, formulierte ich das so: „Nach Öffnen des Vorhangs schlüpfen als erstes die Ratten durch.“
Auch wenn immer wieder (berechtigt) der Unterschied zwischen West und Ost angeführt wird, z.B. in Bezug auf die seelische Entwicklung (Gemütsseele, Bewusstseinsseele) usw., so wurde mir sehr deutlich, dass es sich bei vielen östlichen (anthroposophischen) Freunden zumindest um eine echt gelebte „Gemüts“ – oder „Verstandesseele“ handelt, wogegen bei uns es sich eher um eine vorgestellt gelebte „Bewusstseinsseele“ handelt.
Die materielle Armut (im Verhältnis zur westlichen Lebensqualität) und die sich daraus (vielleicht) ergebende, bedingt tatsächliche Abhängigkeit wird beinahe nahtlos auf das geistig-kulturelle Leben übertragen. Es wird (wurde) anscheinend vergessen, dass zur Gründung der AAG und beim Bau des ersten Goetheanums russische Freunde führend am Gelingen (aller bekannten Ereignisse) beteiligt waren.
Nun, etwa 70 Jahre später, wird diesem Volk die Bittstellerrolle zugeordnet, wird es gleichsam entmündigt.
Was ist ein Diplom im Zusammenhang mit Anthroposophie überhaupt? Ist das nicht ein Anachronismus? Eine Erscheinungsform, die in der Folge zur Desorientierung von Schüler und Dozent beiträgt? Eine Orientierung zu Gepflogenheiten, welche in einer Gesellschaft zur Anwendung kommen, die bewusst nichts mit ethischem Individualismus zu tun haben möchte, nicht mit einer lebenslänglichen Lern-, Schulungsmöglichkeit des Menschen […] rechnet?
Natürlich betrifft das, was ich Gegeistel nenne, nicht nur die Anthroszene. – Die Wirklichkeit verschwindet unter einer aus den unterschiedlichsten Jargons zusammengewebten Decke. Im Anthro-Jargon wird viel vom „Geist“ gesprochen; deshalb nenn ich das „Gegeistel“. In anderen Jargons ist es Volkswohl, Wille der Partei, Wille Gottes und was sonst noch alles…
Das Überschwafeln der Realität führt gnadenlos ins Chaos…
Ich weiß, dass ohne geistige Selbstbefreiung der Einzelnen, ohne ehrlichen Realzugang zum Geist das Chaos immer grösser wird. Dass das schiefgehen muß, weiß ich schon seit Jahren…
Das Leben mit den drei in meiner „weltanschaulichen Entwicklung“ angedeuteten Fragen (Tatsache des Bewusstseins; Tatsache des Denkens; halbverborgener selbständiger Kern in mir, der gegen Aufgepfropftes ankämpfen kann) führten zur Gewissheit des Realgeistigen. Über diese Fragen und deren erlebtes Umfeld kann ich schreiben; das ist reale selbstdurchlebte Erfahrung, die auch für andere Anregung sein kann, sich aus dem Gesumpfe herauszuwurschteln.[*]
Geschrieben hab ich auch über „Humorbegabte Dämonen“; ganz locker, ohne Frömmelei. Daß „höhere Koordination“ vorliegt bemerke ich häufig; zum ersten Mal, als ich noch grimmiger Atheist war.[**]
Ich schreib das ganz locker, mit leichtem Anflug von groteskem Humor. Obwohl ich das vollständig ernst nehme. Ich erinnere mich, wegen meiner Lockerheit im Umgang mit höherer Koordination gab es Vorwürfe von geistorientierter Seite. – Ich aber sage: Besser locker-humoristisch über real Durchlebtes und Erkanntes schreiben, als in tierisch ernster Frömmelei herumgeisteln. Letzteres könnte ich gar nicht.
„Twenty-five-year-old Chinese office worker Tufei says her boyfriend has everything she could ask for in a romantic partner: He's kind, empathetic, and sometimes they talk for hours. - Except he isn't real. - Her "boyfriend" is a chatbot on an app called "Glow," an artificial intelligence platform created by Shanghai start-up MiniMax that is part of a blossoming industry in China offering friendly — even romantic — human-robot relations.“
Ich antwortete:
Eine ganz normale Verkörperung der energisch sich entwickelnden Entfremdung des Einzelnen gegenüber sich selbst und gegenüber seinen Mitmenschen.Die Technik macht‘s möglich.
Ein auf einer Parkbank sitzendes oder den Weg entlang spazierendes Paar, beide in ihre Handys vertieft. Normaler Anblick. – Dank AI wird die Isolation nun offener und ehrlicher.
Irgend so’n Steiner und auch ein Witzenmann haben Ansätze geschaffen, die Isolation zu durchbrechen und reales Miteinander zu schaffen. Ihre Anregungen wurden zur gruppenbildenden Ideologie umgearbeitet, der man sich aus den unterschiedlichsten, meist undurchschauten Beweggründen anschliesst.- Die Entfremdung bleibt; entsprechende Versammlungen unterscheiden sich oftmals nicht wesentlich von den in ihre Handys vertieften Parkbesuchern.
Heute hatte ich den Beta-Kurs; wie immer in schwacher Besetzung.
Man bat mich um eine allgemeine Übersicht über das bisher in der "Philosophie der Freiheit" durchgenommene. Die gab ich denn auch. Zwei Teilnehmerinnen hatte ich seit Monaten nicht mehr gesehen; eine davon schrieb fleißig mit, was ich sagte, verstand aber nicht übermäßig viel; und ich sagte ihr auch, dass diese ganzen Wörter ihr zu überhaupt nichts nütze sind. – Die andere stellte mir die Frage nach der Freiheit des Willens: Ob der Mensch denn nun frei ist oder nicht; und ich antwortete, dass eine Antwort ihr nichts nützen würde; und ich zeigte auf den Umfang des Buches und meinte, dass man bei gründlicher Durcharbeitung dieser Frage näherkommen könnte; und auch mit denjenigen, die mehr oder weniger regelmäßig teilnahmen, seien wir nur langsam vorangekommen und seien noch weit davon entfernt, diese Frage in den Griff zu kriegen. – Sie beharrte aber auf ihrer Frage, und ich beharrte auf meiner Weigerung, sie zu "beantworten".
– Diese beiden Stunden verliefen, zumindest für mich, durchwegs lustig und locker. Mir selbst hat die Arbeit an der Akademie, nebenbei b'merkt, ganz sicher genützt; diese Souveränität und Lockerheit im Umgang mit dem Material hatte ich bei ihrem Antritt, scheint's, noch nicht.
Nach dem Unterricht hatte ich ein längeres Gespräch mit A. aus dem Alpha-Kurs. Katastrophale soziale Lage; völlige Einsamkeit; ein jeder lebt für sich. Nix mit Gemeinschaft freier Geister: armselige Anhäufung gegeneinander abgeschotteter Befangener. Aber das läuft unter dem Banner "Anthroposophie". Und niemand merkt was.
Die Starken müssen zu sich kommen und sich daraus herauslösen! Im Alpha-Kurs sind das Olja D., Lida und - trotz derzeitiger Hilflosigkeit A. – […] Mit diesen werde ich, ganz klar, weiter arbeiten.
Zufällig entdeckte Aufzeichnung aus den wilden postsowjetischen neunziger Jahren. – An den in vorliegender Veröffentlichung XY genannten Gesprächspartner (in der Aufzeichnung ist er mit vollem Vor- und Zunamen benannt) kann ich mich nicht mehr erinnern. Aus dem Kontext und ein paar weiteren Aufzeichnungen, in denen der deutsch klingende Name erwähnt ist, geht hervor, dass er Deutscher ist, in Deutschland lebt und gelegentlich in Russland vorbeischaut. Wird wohl so sein…
Gestern Abend kam XY vorbei, der Möchtegern-Geschäftemacher. Der Mentalität nach: Kolonisator. Wennauch zu sehr von sich eingenommen und zu wenig fähig, seine faktischen Möglichkeiten einzuschätzen, als dass er mit seinem Beginnen größeren Erfolg haben könnte. –
Er findet, dass die Situation hier sich doch sehr gebessert hat; es gebe keine Schlangen mehr, keine Versorgungsengpässe. Ich bestätigte, dass man inzwischen in Moskau alles kaufen kann, was das Herz begehrt; vorausgesetzt, man hat das nötige Geld; dass aber letzteres nur bei einer, wenn auch ständig wachsenden, Minderheit der Fall ist und dass die Mehrheit - und darunter die ganze moralisch gesunde Intelligenz - gerade genug hat zum Leben: dass die Kluft zwischen sehr arm und sehr reich immer schroffer wird. Und ich stellte ihm dar, wie die soziale Katastrophe zunächst nur durch zwei dem russischen Leben eigene Faktoren hinausgezögert wird: zum einen soziale Offenheit, Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe (was jedoch kaum noch für die reiche Schicht, die sogenannten "neuen Russen" gilt), und dann noch Fähigkeit und Bereitschaft zur Improvisation. Dass die hiesigen Bedingungen, auf deutsche Verhältnisse übertragen (wo man mehr in fixen Vorstellungen lebt "wie es zu sein hat" und neuen Situationen, die Improvisation erfordern, unwillig und ratlos gegenübersteht und wo man zu sehr "sozialdarwinistisch" eingestellt und auf das eigene Wohl bedacht ist, als dass freies soziales Strömen und nicht berechnende gegenseitige Hilfe hier eine nennenswerte Rolle spielen könnten) längst zur Hungersnot geführt hätten - darin ging er mit mir einig.
Ich sagte ihm ganz offen, was ich davon halte, dass ein ganzes Volk mit Unterstützung des Auslands durch eine moralisch minderwertige Minderheit ausgebeutet wird; er aber fand meine ablehnende Haltung gar sehr merkwürdig und meinte, dass Bereicherung doch aber immer auf Kosten anderer geht; das sei doch normal und noch immer so gewesen. - Ich sah davon ab, mit ihm zu streiten; aber es machte mir großes Vergnügen, ihm auseinanderzusetzen: Dass diese Kolonialisierung, diese Ausbeutung des Großteils des Volkes durch eine Minderheit hochgeschwemmter Krimineller entweder in nächster Zeit zum Stillstand kommen muß, oder aber, dass eine Katastrophe kommt.
Dies war ihm sehr unangenehm. Er meinte, dass das doch aber wohl noch vier bis fünf Jahre gut gehen wird? (offenbar hofft er, bis dahin seine Schäfchen ins Trockne gebracht zu haben). Es machte mir großes Vergnügen, ihm zu erwidern, dass nach meiner Schätzung bei Einbehaltung dieser Richtung die Katastrophe in allerspätestens einem Jahr ausbricht. Worauf er erwiderte: Die Russen seien doch aber so geduldig! - Und ich legte ihm denn, mit der allergrößten Genugtuung, dar, dass die Geduld der Russen in der Regel sehr viel länger hält als bei anderen Völkern; wenn sie aber zu Ende geht, so seien die Folgen solche, dass demgegenüber soziale Unruhen und Aufstände, wie man sie in anderen Ländern kennt, harmlose Kindergartenspiele sind. - All dies war ihm offensichtlich sehr unangenehm; nicht wegen der Russen, sondern wegen seiner potentiellen Pfründe.
- Davon, dass ich in Verbindung mit dem Eintreffen von Solschenizyn Veränderungen erwarte - sagte ich nichts; all dies hätte er nicht verstanden. Das sind Feinheiten, die seinem grobschlächtigen Blick, der Russland einzig als potenzielle Goldgrube betrachtet, nicht zu fassen sind.
- Unser ganzes Gespräch war ein zweistündiges Geschimpfe meinerseits; nicht an ihn gerichtet zwar, sondern an den Geist, den er vertritt. Er nahm es denn auch nicht persönlich; und als ich sagte, dass er von mir natürlich keinerlei Hilfestellung, Information, Vermittlung erwarten darf, da war er zwar offensichtlich enttäuscht; doch nahm er es mir nicht direkt übel und antwortete nur, dass er bei mir gewöhnt ist, dass ich immer offen sage, was ich denke.
♦♦♦
Die zweistündige Schimpferei (gewissermaßen eine offene Aussprache mit dem Geist, der hier wütet) tat mir gut; P. meinte anschließend, ich wirke sehr ausgeglichen.
Gestern Gespräch mit X. Ein anständiger Kerl; aber reiner Büchermensch. Liest sehr viel, verfügt über sehr viel Information, und geht extrem naiv damit um. Sogar kamen wir kurz auf das Problem zu sprechen: Lesen um der persönlichen Entwicklung willen. Ich sagte ihm, dass ich nicht immer in der Lage bin, über alles, was ich bei Witzenmann oder Steiner lese, sofort zu referieren; dass ich das aber auch nicht als Ziel betrachte.
Worauf X erwiderte, dass man aber doch in einem sozialen Umfeld lebt und die Dinge weitergeben muß. – Eben hier hakte ich ein und betonte, dass sozial relevant nur das ist, was man aus deutlichem eigenem Erleben in Worte fasst und dass Agitation auf geistigem Gebiet nix bringt. Zitierte aus dem „Faust“; vor allem aus jener lustigen Szene am Anfang, die Faust in nächtlichem Gespräch mit dem «trocknen Schleicher» zeigt.