Die Klamurke Belletristik

Die Königstochter

Der Großvater und die Großmutter gingen einstens im Walde spazieren. Die Großmutter trug einen großen Korb mit Mohrrüben, und der Großvater hatte einen schwarzen Zylinderhut auf dem Kopf. — Als der Großvater über eine Wurzel stolperte und zu Boden fiel, lief die Großmutter schreiend davon und ließ dabei den Korb mit den Mohrrüben fallen. Der Großvater setzte sich neben seinen Zylinderhut, der ihm bei dem Sturze vom Kopf gefallen war, und dachte nach über das rätselhafte Leben und die merkwürdigen Schicksalsschläge, die es auf Schritt und Tritt auszuteilen pflegt. — Während er so da saß und nachdachte, kam eine schöne Königstochter des Weges, die einen Korb mit Eingemachtem trug. Wie sie den Großvater so nachdenklich neben seinem Zylinderhute sitzen sah, da fand sie großes Wohlgefallen an ihm; und sie beschloß, ihm den Korb mit dem Eingemachten zu schenken. Der Großvater aber war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er die des Weges kommende Königstochter nicht bemerkt hatte. So manche Schicksalsschläge zogen an seinem inneren Auge vorbei. Wie die Königstochter ihn ansprach, erinnerte er sich gerade jenes schmerzhaften Ereignisses, als die Großmutter, eine Pfanne mit Spiegeleiern in der Hand, auf dem glatten Parkettfußboden ausrutschte und ihm im Fallen die Pfanne auf den Kopf schlug. – "Hätte sie statt einer Pfanne ein Messer in der Hand gehabt, so hätte sie mich totstechen können", – dachte der Großvater. – "Warum mußte sie unbedingt so hinfallen, daß auch ich dabei zu Schaden komme? Um nicht alleine leiden zu müssen?“ — Also dachte der Großvater. In diesem Momente sprach ihn die Königstochter an und riß ihn heraus aus seinen Gedanken. Der Großvater schaute sie an, und er fand sogleich großes Wohlgefallen an ihr. Die Königstochter sagte, sie wolle ihm den Korb mit dem Eingemachten schenken; doch der Großvater wollte den Korb nicht annehmen und antwortete, viel lieber würde er sie heiraten. Denn es war schon eine außerordentlich schöne Königstochter. Die Königstochter antwortete, sie sei im Prinzip gegen eine solche Ehe nicht abgeneigt; nur habe sie von weitem eine weibliche Person gesehen, die schreiend irgendwohin lief. Ob nicht etwa eine Verbindung bestehe zwischen dem Großvater und dieser Person? — Der Großvater antwortete, das sei in der Tat seine Frau gewesen; doch habe das in diesem Zusammenhange nichts zu bedeuten, da er sie davongejagt habe; und sie werde gewiß nicht mehr zurückkommen und sie bei ihrem Glücke stören. — Die Königstochter dachte nach. – "Gut", sagte sie schließlich. – "Und selbst wenn sie zurückkehren sollte, so wäre das weiter nicht schlimm. Wir würden sie ganz einfach als Dienerin mit ins Schloß nehmen."

So kam es, daß der Großvater die schöne Königstochter heiratete; und die Großmutter, die kurz darauf zurückkehrte, diente ihnen treu und ergeben bis an ihr seliges Ende.

© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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