Die Klamurke Belletristik

Der Seeräuber

Das ist nun schon sehr lange her...

Irgendwo auf der Nordsee war's; vielleicht auch auf der Ostsee oder auf dem Kaspischen Meer; Genaues weiß ich nicht mehr zu sagen, da ich zu einer genauen Ortsbestimmung zu betrunken war.

Ich saß in meiner Kajüte und hatte eben den fünften oder siebzehnten Weinkrug geleert, als es an meine Tür klopfte. Ich sagte "Herein!" (oder sonstwas in dem Sinne); die Tür öffnete sich; und herein trat der lange Bootsmaat. Bei seinem Anblick fiel mir ein, daß ich ihn gestern über Bord werfen wollte; und ich überlegte, was da gewesen sein könnte und wieso er immer noch am Leben ist. Irgendwas mit... Ach, zum Teufel.... Dauernd ist irgendwas los; wenn man sich alles merken müßte, was passiert, würde man an all dem Geschehenen ersticken….

"Der Mann im Ausguck hat 'n Schiff gesehen", – sagte der lange Bootsmaat.

- "Ja?", – fragte ich streng. Genau in dem Moment hatte er mit Sprechen begonnen, als ich anfing, mich zu erinnern. Irgendwas Wichtiges muß da gewesen sein... Ich schaute ihn an. Am besten wohl, ich frag ihn selbst. – "Gestern...," – sagte ich zögernd; doch blieb ich stecken, da ich nicht wußte, wie ich weiter fragen sollte.

"Nicht gestern, sondern heute", – antwortete der lange Bootsmaat. "Grad vorhin hat er's gesehen." — "Was?" – fragte ich. — "Das Schiff", – antwortete der lange Bootsmaat. — "Soso", brummte ich. – "Ein Schiff hat er gesehen. Und was für ein Schiff?"

"Ein Schiff halt." – Der Bootsmaat zuckte die Achseln. – "Was für eins hat er nicht gesagt. Vielleicht ist es noch zu weit weg..."

"Wenn der Mann im Ausguck ein Schiff sieht, so ist das nichts außergewöhnliches", – belehrte ich ihn. – "Immerhin sind wir auf dem Meer."

Daß wir auf dem Meer sind, schien mir klar. Der Untergrund schaukelte; und ich war sicher, daß das nicht vom Wein kam. Und den langen Bootsmaat hatte ich über Bord werfen wollen; was nur auf dem Meere sinnvoll ist...

Langsam begann ich, mich zu orientieren. Auch an die Verfehlung des langen Bootsmaats konnte ich mich erinnern: Trunkenheit im Dienst. Nun; Schwamm drüber...

"Ich steig hoch und seh selbst nach", – sagte ich.

Gemeinsam verließen wir die Kajüte.

Leicht gesagt: Zum Mastkorb klettern. Wie ich den in meinem Zustand erreichen soll - keine Ahnung. Nur nichts anmerken lassen. Immerhin hatte ich gestern einen Untergebenen wegen Trunkenheit im Dienst über Bord werfen wollen. Mich selbst wird niemand wegen Trunkenheit über Bord werfen, weil ich der Kapitän bin; aber was für ein Beispiel! Nee; ich darf mir nichts anmerken lassen. Da ich schon mal den Entschluß bekundet habe, in den Mastkorb zu steigen, muß ich das nun auch tun; als Seeräuberkapitän hast du viele Rechte; wesentlich mehr als andere; hast sie deswegen, weil du sie dir selber gibst oder nimmst; nur das Recht des Zauderns und der Unentschlossenheit geht dir ein für allemal verloren; und wenn du öffentlich den Entschluß bekundet hast, in den Mastkorb zu klettern, so mußt du das auch tun, selbst dann, wenn der Entschluß leichtsinnig oder im Suffe zustandegekommen ist; denn überhaupt: was ist das für ein Seeräuberkapitän, der leichtsinnig oder im Suffe seine Entschlüsse faßt. So einer läuft jeden Moment Gefahr, seine Mannschaft und alle, die von ihm abhängen, zugrundezurichten; besser, er kehrt reumütig zurück unter die Fuchtel der geschriebenen Gesetze, wenn er nicht in der Lage ist, sein eigener Gesetzgeber zu sein. Ja nun: den langen Bootsmaat hatte ich gestern über Bord werfen wollen und es dann doch nicht getan; aber solches ist verzeihlich; ihn zu opfern wäre sicher falsch gewesen; denn im Grunde ist er ein anständiger Kerl und ein fähiger Mitarbeiter. Fähige Mitarbeiter aber sollte man nicht über Bord werfen; es wäre ein Schritt in die falsche Richtung gewesen, in dem ich rechtzeitig innegehalten hatte; und noch besser wäre es gewesen, zu solchem Schritt überhaupt nicht anzusetzen; ganz sicher war es nicht falsch, daß ich ihn dann doch nicht über Bord werfen ließ; irren ist menschlich, aber im Irrtum verharren ist teuflisch. Zum Mastkorb aber werde ich klettern müssen; ganz egal, wie betrunken ich bin; als Piratenkapitän kann ich nicht so leichthin sagen, ich steige in den Mastkorb und einen Augenblick später mit der gleichen Selbstverständlichkeit verkünden, daß ich nun doch nicht hochsteige und dabei vielleicht gar zugebe, daß ich betrunken bin. Ein solches Zaudern und ein solches Bekenntnis würden meine Autorität untergraben; ganz abgesehen davon, daß ich mir selbst als Zauderer vollends unerträglich bin; und ich nahm mir vor, nie wieder Alkohol zu trinken, da ich Besoffene eh nicht ausstehen kann; und ganz besonders dann nicht, wenn der Suff sie zu unentschlossenen Zauderern macht, die sagen, sie steigen in den Mastkorb und dann plötzlich anfangen zu zweifeln, ob es richtig ist, in den Mastkorb zu steigen...

"Darf ich Ihnen helfen?" – hörte ich plötzlich über mir eine rauhe Stimme. Erstaunt blickte ich hoch; und mir dämmerte, was ich über all den vorangegangenen Erwägungen nicht zur Kenntnis genommen hatte: daß ich nämlich unterwegs bin zum Mastkorb und fast schon angekommen. Von oben streckte sich mir die Hand des Mannes im Ausguck entgegen. "Nicht nötig", – winkte ich ab. Mit ein paar knappen Bewegungen hißte ich mich zu ihm hoch. – "Der Bootsmaat sagte etwas von einem Schiff?" – fragte ich. — "Dort drüben", – antwortete der Ausguck und deutete artig mit seiner Rechten gen Backbord. Ich setzte das Fernrohr ans Auge; und in der Tat: Dort schwamm ein Schiff. — "Behalt es im Auge", – sagte ich und machte mich daran, wieder nach unten zu steigen. — Gern wäre ich oben geblieben; ich liebe das weit ausholende Schaukeln des Mastkorbs, das die Bewegung der Wellen würdig verstärkt; nur wegen meines Suffs hatte ich vorhin Bedenken gehabt, hochzusteigen. Stunden könnte ich dort oben verbringen; und wäre es nicht mein Schicksal, Kapitän zu sein, so würde ich am liebsten im Mastkorb Dienst tun. Doch wäre ich oben geblieben, so hätte ich mich mit dem diensthabenden Matrosen unterhalten müssen; wenn man auf so engem Raum zusammengepfercht ist, kann man nicht einfach schweigend nebeneinanderstehen; und da hätte ich nicht gewußt, was ich sagen soll. Was sucht dieser Mann auf dem Meer? Wozu ist er Seeräuber worden? Einer von denen ist's, die reich werden wollen; sowas riech ich sofort; einer von denen, die auf normalen Wegen keine Möglichkeit sahen, an ihr Ziel zu kommen und deshalb die Wege verlassen haben. Ihr Ziel aber liegt auf dem Festland; und das Festland hoffen sie später, mit günstigeren Ausgangsbedingungen, wieder anzusteuern. Worüber soll man sich mit einem solchen Menschen unterhalten? Ich weiß es nicht. Ich selber bin Seeräuber worden, weil ich das Festland hasse; und rauben tu ich nur, weil man irgendwas tun muß, um seine Mannschaft bei der Stange zu halten. Was interessiert mich dies glitzernde und klimpernde Zeugs, das diese Idioten, die wir kapern, mit sich herumschleppen... Blödsinn. Aber meine Leute sind dem hinterher; nicht besser sind sie als die Festlandbewohner. Festlandbewohner aber hasse ich; hasse ihre erstarrten Illusionen, hasse ihre selbstgefällige Art, durch ihre erstorbene Welt zu schlurfen, ihre Blödheit, die nie begreifen will, daß auch ihre erstarrte Welt aus der Bewegung kommt, und wie die Bewegung nicht zur Ruhe gekommen ist, sondern lauert, jeden Augenblick gewärtig, das Erstandene wieder zu zerschlagen und zu verschlingen; und wie ich sehe, wie sie durch ihre Furcht vor Bewegung, durch ihr idiotisches Klammern immer wieder selbst die Bedingungen schaffen, die ihre wohlgeordnete Welt und ihr erbärmliches Behagen in Trümmer schlagen – so packt mich manchmal sogar das Mitleid.

Der Mann im Mastkorb ist, gleich den meisten anderen auf meinem Schiff, nicht besser als die Festlandbewohner, obwohl er zur See fährt und ein begabter Seeräuber ist. Er lebt nicht aus der groß angelegten Bewegung. Eigentlich haßt er das Meer; das Wenige, was er davon wahrnimmt, ist für ihn notwendiges Übel auf dem Weg zu einer ehrlichen und soliden Erstarrung. Wie soll man sich mit so jemandem unterhalten? Ich versteh ihn, aber er mich nicht...

Unterdessen hatte ich die sicheren Planken des Decks wieder erreicht. Ich übergab dem Bootsmaat das Kommando und hieß ihn, die Verfolgung jenes Schiffes aufzunehmen; und sobald sich irgendwas Entscheidendes tut, soll er mir Bescheid geben. Dann zog ich mich in meine Kajüte zurück, um zu schlafen. Die Trinkerei muß aufhören; basta.

Was aus dem Schiff, welches der Ausguck entdeckt hatte, geworden ist, weiß ich nicht mehr. Das ist auch schon sehr lange her.

Vermutlich haben wir es gekapert.

© Raymond Zoller

Zur russischen Fassung






Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

Ausführliche Besprechung bei Amazon findet man über dieses Link