Die Klamurke Belletristik
Ins Land des Lasters
Dürfen Fahrkartenkontrolleure Schwarzfahrer durchsuchen?

Die Schwarzfahrerin

An einem dieser lauen Frühlingstage, an denen alles mögliche zu passieren pflegt, das dann in der Folge allen Beteiligten zur unauslöschlichen Erinnerung wird oder gar in die Geschichte eingeht, begab es sich, daß in einem städtischen Busse plötzlich zwei männliche Gestalten sich von ihren Sitzen erhoben und die übrigen Fahrgäste aufforderten, ihnen ihre Fahrkarten zu zeigen.

Eben diesen Bus hatte kurz zuvor Aita zwecks Erreichen eines uns nicht näher bekannten Zieles als Beförderungsmittel sich auserkoren; und bereits hier sei vermerkt, daß sie im Allgemeinen ohne Fahrkarte zu fahren pflegt und daß auch diese Fahrt ganz im Sinne selbiger Gepflogenheit ablief. — Oder, anders ausgedrückt: Aita ist leidenschaftliche Schwarzfahrerin.

***

Die Gilde der Schwarzfahrer ist, wie bekannt, eine internationale. Von keinen staatlichen Grenzen beengt wirkt sie einträchtig und unbeirrt an allen Punkten der Erde, wo immer Busse fahren und Züge, Straßenbahnen und U-Bahnen, Dampfboote und Zahnradbahnen; in allem, was an öffentlichen Verkehrsmitteln kreucht und fleucht und schwimmt, ist sie Tag und Nacht in unermüdlichem Einsatz.

Grenzenlos über alle Kontinente hin erstreckt sich die Gilde der Schwarzfahrer; doch eng und kärglich ist ihr ideologischer Untergrund. — Denn wieso fährt der Schwarzfahrer schwarz? Will er die Welt verbessern? Der Menschheit ein Licht aufstecken? – Nein. Weder die Welt will er verbessern, noch ein Licht will er der Menschheit aufstecken. Umsonst will er fahren; weiter nichts. Geld will er sparen, um es für was anderes auszugeben. Und wo er sich schon mal aufschwingt zu ideellen Höhen, so höchstens, daß er das Schwarzfahren als Protest betreibt gegen die hohen Fahrpreise. Was natürlich edel ist; aber alles in allem doch recht mager und nicht würdig, als Ideologie zu dienen für eine internationale Bruderschaft.

Und gar gibt es solche prinzipienlose Vertreter der Schwarzfahrergilde, deren Verhalten seine Wurzeln hat in primitivsten, jeglicher Idee entblößten Sachzwängen; das heißt Individuen, die einfach bloß deshalb schwarz fahren, weil ihnen das Geld fehlt für eine Fahrkarte.

Fürwahr öd und kärglich ist der ideologische Untergrund der Schwarzfahrergilde; viel zu kärglich, als daß Aita in ihm gedeihen könnte.

Und in der Tat: nur dem alleräußersten Scheine nach gehört Aita dieser Bruderschaft an; gehört ihr an, weil sie, eben: schwarz fährt; und schwarz fährt sie mit unendlicher Hingabe, mit der ganzen Leidenschaft, derer man fähig ist im zarten Alter von 21 Jahren und die dann in späteren Jahren so häufig wieder verblaßt; fährt schwarz mit einer Leidenschaft, die manchmal an Wollust grenzt und häufig auch zur Wollust wird; doch verhaßt ist ihr alles Sparen und Knausern, fremd und unverständlich sind ihr die Motive und Triebfedern der gewöhnlichen Schwarzfahrer.

Als ihre Freundin Susanne ihr erzählte, sie habe ein Schwarzfahrsparschwein eingerichtet, in welches sie nach jeder erfolgreichen Schwarzfahrt den Gegenwert der gesparten Fahrkarte einwirft, um sich später etwas nettes zu kaufen – da fand Aita dies äußerst geschmacklos. Denn bekannt ist ihr, daß der Betrieb der öffentlichen Verkehrsmittel Geld kostet; und normal findet sie es und natürlich, daß man bei der Beschaffung der benötigten Mittel auf diejenigen zurückgreift, welche diese Verkehrsmittel benutzen. Und wer Geld hat, sich eine Fahrkarte zu kaufen, der soll sich, wenn er fährt, auch gefälligst eine kaufen!

Es sei denn, es liegen ganz besondere Gründe vor...

***

Aufgrund solcher ganz besonderer Gründe zog Aita über Monate hinweg mit ihrer Freundin Rita klauend durch die Kaufhäuser der Stadt. Die geklauten Sachen behielten sie selten für sich; das meiste verschenkten sie an Stadtstreicher und Bettler oder brachten es heimlich wieder zurück. – Nicht die Sachen interessierten sie; interessieren tat sie der Nervenkitzel; die Sachen waren nur Mittel zum Zweck. Und die Ernte an Nervenkitzel war reichlich; besonders die beiden Male, als sie erwischt wurden. Wie sie ihrer Freundin Susanne im Vertrauen erzählte und wie diese dann im Vertrauen anderen weitererzählte, stand sie, als sie zum ersten Male erwischt wurde und man ihr Handschellen anlegte, kurz vor einem Orgasmus.

Doch das gehört wohl nicht hierhin...

Aita kam dann aber zu dem Schlusse, daß der Schaden, der durch solchen Lustgewinn für die Volkswirtschaft entsteht, unverhältnismäßig hoch ist; und deshalb stellte sie diese Expeditionen ein. Ihre Freundin Rita fand solche Erwägungen einleuchtend; jedoch war sie bereits süchtig und machte alleine weiter. Beim ersten Alleingang wurde sie dann zum dritten Male erwischt und mußte dafür ins Gefängnis, wo Aita, die sie wegen dieses Abenteuers insgeheim beneidete, sie regelmäßig besuchte. Rita erzählte von all dem Nervenkitzel, den das Gefängnis zu bieten hat, und riet ihr dringend, es auch auszuprobieren.

Aita war nicht abgeneigt; doch wollte sie aus ideologischen Gründen die Diebestouren nicht wieder aufnehmen und begnügte sich mit Schwarzfahren. Schwarzfahren fand sie vertretbar. Der Lustgewinn ist zwar nicht ganz so groß wie beim Kaufhausdiebstahl; doch dafür ist auch der Schaden unverhältnismäßig geringer. Im Grunde entsteht durch ihre unbezahlte Anwesenheit überhaupt kein nennenswerter Schaden; und das Wenige an Schaden, das vielleicht doch entstehen könnte, versuchte sie dadurch wettzumachen, daß sie sich zu jeder Schwarzfahrt immer besonders sorgfältig und möglichst offenherzig kleidete, auf daß ihre unbezahlte Anwesenheit dem Busse oder der Straßenbahn zum Schmucke gereiche und daß sie, gleich diesen leichtbekleideten Animiermädchen in den Bars, den zahlenden männlichen Passagieren rein durch ihre Anwesenheit einen zusätzlichen Service biete.

Darüber hinaus hatte sie, dem Beispiel ihrer Freundin Susanne folgend, ein Schwarzfahrsparschwein angelegt, in welches sie nach jeder Fahrt den Gegenwert der gesparten Fahrkarte einwarf; nur daß sie das Geld nicht für sich behielt. War ein Sparschwein voll, so schickte sie es mitsamt Inhalt anonym an die Verkehrsbetriebe.

***

Langsam und unerbittlich, einer von vorne, einer von hinten, rückten die Kontrolleure heran. Aita fühlte sich in der Falle und berauschte sich am Gefühl unentrinnbarer Gefahr.

Für jeden Schwarzfahrer, gleich welcher Orientierung, spielt der Kontrolleur eine entscheidende Rolle. Der Durchschnittsschwarzfahrer ist stets nach Kräften bemüht, jegliche Begegnung mit ihm zu vermeiden, da selbige Folgen nach sich zieht, die durchaus als unangenehm empfunden werden. Für ihn ist der Kontrolleur eine vom Teufel, von den Kapitalisten, den Jesuiten oder den Freimaurern erfundene Einrichtung, die nur dazu da ist, das Leben zu verkomplizieren und die Menschheit in Probleme zu stürzen.

Nicht so für Schwarzfahrer vom Schlage Aitas. Für sie gibt erst der Kontrolleur der Sache Sinn und Würze; und gäbe es keine Kontrolleure, so würde Aita nie und nimmer schwarzfahren und ganz sicher jedes Mal eine Fahrkarte kaufen, vielleicht sogar ein Abonnement. Denn erst der Kontrolleur als im Hintergrund lauernde potentielle Größe gewährt eben den Nervenkitzel, auf den es letztendlich ankommt; und tritt er gar aus der Potentialität heraus in die greifbare Erscheinung, so ist dies mit kaum etwas anderem zu vergleichen; höchstens noch mit dem Auftauchen eines Kaufhausdetektivs.

Aita liebt es, mit den Kontrolleuren Katz und Maus zu spielen; wobei sie den Umständen und ihren Neigungen entsprechend, die Rolle der Maus übernimmt und dabei ganz beachtliche Initiative entwickelt.

***

Viel zu tun gab es für die Kontrolleure; auf Schritt und Tritt Fahrkarten über Fahrkarten, von denen jede einzelne gründlich und umständlich untersucht wurde; und noch mehr Zeit nahmen die nicht vorhandenen Fahrkarten ein; da wurden dann alle möglichen Ausweise in Augenschein genommen, und viel wurde gefragt und geschrieben.

Doch unbarmherzig rückten sie näher; wie die bekrallten Pfoten eines riesigen Katers schoben sie sich, von jeder Seite einer, auf sie zu. Bald werden die Krallen zuschlagen. Wie bei einer richtigen Maus begannen sich in Aita Fluchtinstinkte zu regen. Sie erhob sich, ging langsam Richtung Ausgang. Der Bus hielt an einer Ampel; etwas weiter vorn sah man schon die nächste Haltestelle. Der vordere Kontrolleur hatte eben die Bestandsaufnahme einer nicht vorhandenen Fahrkarte abgeschlossen und stopfte sein Notizbuch in die Innentasche seiner Jacke. Wie Aita an ihm vorbeischleichen wollte, wandte er sich um, hielt ihr seinen Ausweis entgegen und sagte knapp:

„Ihre Fahrkarte, bitte!“

„Ich muß jetzt aussteigen“, – antwortete Aita sanft. „Gleich kommt meine Haltestelle.“

„Sie dürfen gerne aussteigen. Doch vorher sollten Sie mir Ihre Fahrkarte zeigen“, – beharrte der Kontrolleur und starrte ihr dabei mit unverhohlenem Wohlgefallen in den Ausschnitt. Einen schwarzen Schnauzer hatte er und wirkte leicht unterwelthaft. Er gefiel ihr sehr.

„In meinem Ausschnitt steckt sie nicht“, – antwortete sie

Den Kontrolleur schien das nicht zu stören. „Wenn Sie nicht wollen, daß man in Ihren Ausschnitt schaut, müssen Sie sich bedeckter halten“, – sagte er. „Ihre Fahrkarte aber müssen Sie mir zeigen; ganz egal, wo Sie sie hingesteckt haben...“

„Erst die junge Dame mit Blicken belästigen, und dann auch noch unverschämt werden!“ – rief der ältere Herr, an dessen abwesenden Fahrkarte der Kontrolleur sich soeben zu schaffen gemacht hatte. „Eine Frechheit ist das! Man sollte sich über Sie beschweren!“

„Beruhigen Sie sich“, – winkte der Kontrolleur ab. „Aufregung schadet der Gesundheit.“

„Wenn in meiner Gegenwart die guten Sitten verletzt werden!“ – ereiferte sich der Mann. „Das geht doch nicht...“

„Schon gut“, – lächelte Aita. „Ich fühle mich nicht belästigt... Trotzdem vielen Dank..."

„Ich habe doch selbst gesehen, wie er in Ihren Ausschnitt starrte", – regte der Herr sich auf. „Richtig reingeglotzt hat er! Ein Lustmolch ist das!"

„Halten Sie Ihre Zunge im Zaum", – rief der Kontrolleur. Aber er schien mehr belustigt als beleidigt.

„Nichts halte ich im Zaum" – schrie der Herr. „Ein Lustmolch sind Sie. Einen Bericht werde ich schreiben! An Ihren Vorgesetzten!"

„Vergessen Sie nicht, ihre Oberweite anzugeben", – grinste der Kontrolleur. Ja: Ein richtiger Unterweltler war er! Warum gibt es nicht mehr von dieser Sorte?

Der Bus hatte unterdessen an der Haltestelle gehalten und fuhr wieder an.

„Sie un-ver-schäm-ter Kerl!" – zischte der Herr. Er war ganz außer Atem.

„Machen Sie sich bitte keine Umstände... Das ist alles ganz normal und natürlich", flüsterte Aita und lächelte den Herrn freundlich an.

„Normal und natürlich... Er zieht Sie aus mit seinen Blicken! Ausziehen tut er Sie! Und Sie sagen, das sei normal und natürlich... Schämen Sie sich denn nicht?"

Aita schaute plötzlich streng: „Warum soll er nicht schauen, wenn es ihm gefällt", – fragte sie scharf. „Und warum soll ich mich schämen, wenn es mich nicht stört?"

„Ich sagte ja nicht, daß Sie sich schämen müssen", – verteidigte sich der Herr. „Ich meinte nur..."

„Schon gut", – lächelte Aita. Sie blickte schon wieder ganz sanft. „Ich liebe es, wenn man mich anstarrt. Und außerdem ist es mein Beruf, mich anstarren zu lassen."

„Wieso Beruf?" – Der Herr verstand nicht.

„Ich bin Nachtclubtänzerin", – sagte Aita.

Das stimmte zwar nicht; aber sie fand, daß dieser spontane Einfall sehr gut paßte.

Den Herrn schien das zu interessieren. „Sie sind Nachtclubtänzerin?" – fragte er. „Was tanzen Sie denn so?"

„Striptease", – antwortete Aita.

„Ach, Striptease tanzen Sie", – rief der Herr begeistert. „Das ist natürlich etwas anderes. Ja, in der Tat... Ihrer Figur und Ihrer Ausstrahlung nach sind Sie für diesen Beruf prädestiniert... Man sagt, Striptease sei eine Kunst... Sie sind also Künstlerin..."

„Wenn Sie so wollen, bin ich Künstlerin", – lächelte Aita.

„Das ist das erste Mal, daß ich eine richtige Stripteasetänzerin von so nahe sehe, " – sagte der Herr. Er war ganz außer Atem und begann nun auch, sie mit seinen Blicken abzutasten. Denn Stripteasetänzerinnen sind ja dazu da, daß man sie anschaut...

Aita machte einen leichten Knicks und zeigte sich ihm dann im Profil.

„Dürfte ich jetzt trotzdem Ihre Fahrkarte sehen?" – mischte sich der Kontrolleur ein. Trotz seines unterwelthaften Aussehens schien er von einem unerbittlichen Pflichtbewußtsein besessen.

„Ich habe keine Fahrkarte", – sagte Aita und strich sich mit der Rechten locker durchs Haar. Frivol klang es, fast verrucht... Die Augen des Kontrolleurs belebten sich von dem Klange; doch seine Antwort bezog sich unerbittlich auf den begrifflichen Inhalt der Worte.

„Wieso haben Sie keine Fahrkarte?"

Aita zuckte die Achseln. „Was macht das für einen Unterschied…." – Kokett legte sie die Hände an die Taille. „Walten Sie Ihres Amtes. Wollen Sie mir Handschellen anlegen?"

„Ich würde gerne", – feixte der Kontrolleur. „Aber ich habe keine. Nur Ihren Ausweis müßte ich sehen." – Und er langte in die Tasche nach seinem Notizbuch.

„Schade, daß Sie mir keine Handschellen anlegen", – sagte Aita. „Man sagt, daß sie mir gut stehen..."

„Haben Sie Erfahrung damit?" – grinste der Kontrolleur und schlug sein Notizbuch auf.

„In meiner Nachtclubnummer trage ich Handschellen", – log Aita.

„Wie können Sie sich denn ausziehen, wenn Sie Handschellen tragen?" – fragte der ältere Herr zweifelnd.

„Ausziehen? Mit Handschellen? Das geht leicht. Man darf nur nichts anhaben mit Schulterträgern." – Aitas Phantasie arbeitete auf Hochtouren. Der zweite Kontrolleur, gleichfalls mir Schnauzer, der aber eher wie ein verkrachter Intellektueller wirkte, hatte seine Runde beendet und sich dazugesellt. Schweigend hörte er zu.

„Aber wenn zum Beispiel ein Reißverschluß da ist? Auf dem Rücken zum Beispiel?" – zweifelte der Herr.

„Auf dem Rücken? Das wäre schwierig. Aber an meinem Kleid ist der Reißverschluß vorn, von hier" – sie legte den Finger an den oberen Rand ihres Ausschnitts – „bis knapp unter den Nabel. Der geht ganz einfach auf." – Und sie legte die Hände zusammen, so, als seien sie mit Handschellen aneinandergefesselt, und führte sie vom Dekolleté bis runter zur Taille. – „Und dann ist hier noch ein Knopf..." – Sie führte die Hände an die rechte Hüfte.

Die Fahrgäste ringsum hörten interessiert zu. Eine ältere Dame warf mißbilligende Blicke, sagte aber nichts.

„Ihren Ausweis wollten Sie mir zeigen", – erinnerte der Kontrolleur.

„Gerne", – antwortete Aita und öffnete gehorsam ihre Handtasche. Ihre Finger ertasteten ihren Paß, ihren Führerschein. Stießen auf etwas Seidiges. Sie zog es hervor, betrachtete es kurz, schob es wieder zurück. Ein Büstenhalter war's. Irgendjemand lachte. Aita konnte sich nicht erinnern, wie der Büstenhalter in ihre Tasche kam; aber sie fand, daß er gut dazu paßte. „Ich habe keinen Ausweis dabei", – sagte sie und klappte mit einer raschen Bewegung die Tasche zu.

„Dann müssen wir Sie leider bitten, an der nächsten Haltestelle mit uns auszusteigen", – sagte der Kontrolleur.

„Ganz wie Sie wollen", – sagte Aita. "Verfügen Sie über mich, wie Ihnen beliebt."

„Wir verfügen über Sie, wie das Gesetz es befiehlt“, – verbesserte der Unterweltler grinsend.

„Wollen Sie nicht Gnade vor Recht ergehen lassen?" – fragte der ältere Herr. „So eine nette junge Dame..."

„Wir würden gerne..." – antwortete der Kontrolleur bedauernd. „Aber Dienst ist Dienst... Auch wir werden kontrolliert. Wenn es rauskäme, daß wir jemanden rein aus Sympathie laufenließen..."

"Es ist sicher richtig, daß die Herren mich mitnehmen", – lächelte Aita. "Trotzdem vielen Dank für Ihren Beistand."

„Und in welchem Nachtclub treten Sie auf?" – fragte der Herr hastig. „Ich möchte doch gern einmal sehen, wie sie tanzen… Sicher sind Sie eine gute Tänzerin…"

„Leider ist das ein privater Nachtclub. Nur für Mitglieder..."

„Aber man kann ja sicher Mitglied werden... Wie heißt er denn?"

„Marquis de Sade," – log Aita.

„Marquis de Sade..." – wiederholte der Herr. „Deshalb die Handschellen. Und wo kann man den finden?"

„In der Karl-Friedrich-Straße", – antwortete Aita.

Einen Privatclub mit Namen „Marquis de Sade" und einschlägigem Programm schien es in der Karl-Friedrich-Straße tatsächlich zu geben; Aita hatte davon gehört und sogar schon mal daran gedacht, ihm einen Besuch abzustatten.

Der Bus verlangsamte seine Fahrt.

„Wir müssen nun aussteigen", – erinnerte der Kontrolleur und faßte Aita sachte am Oberarm.

„Wieso müssen Sie sie unbedingt anfassen", – beschwerte sich der Herr.

„Lassen Sie ihn doch", – beruhigte ihn Aita. „Ich bin jetzt verhaftet."

„Vielleicht sehe ich Sie mal im Marquis de Sade..."

„Erst muß ich ins Gefängnis..." – Mit einer raschen Bewegung öffnete sie ihre Handtasche, zog den Büstenhalter heraus und warf ihn dem Herrn zu. „Zur Erinnerung..."

Der Herr fing den Büstenhalter auf, steckte ihn verstört in die Tasche. „Wieso ins Gefängnis?" – rief er. Aita antwortete nicht. Der Kontrolleur bugsierte sie zum Ausgang, und sie verließen den Bus.

„Wieso wollen Sie eigentlich ins Gefängnis?" – fragte der unterwelthafte Kontrolleur, als der Strom der ausgestiegenen Fahrgäste sich verzogen hatte und sie unter sich waren. Aita wand sich innerlich unter seinen Blicken.

„Sie bringen mich jetzt zur Polizei; und dann komm ich vor Gericht und werde eingesperrt", – sagte sie.

„So schnell kommt man nicht ins Gefängnis", – widersprach der verkrachte Intellektuelle.

„Ich schon... Wegen fortgesetzten Schwarzfahrens..." – Triumphierend sagte sie das; so als mache es ihr Vergnügen, den Kontrolleur zu widerlegen. „Das ist schon das fünfte Mal in diesem Monat..."

„Ja, dann kann's unangenehm werden..."

Der verkrachte Intellektuelle zog ein Handy aus der Tasche, drückte unentschlossen eine Taste.

"Warum so eilig?" – fragte sein Kollege. "Kannst es wohl nicht erwarten, die junge Dame in Handschellen zu sehen?"

"Sie meint ja selbst, daß Handschellen ihr stehen…." – Aber er wählte nicht weiter; sein Zeigefinger verharrte regungslos über der Tastatur. "Es sei denn…" – und fragend blickte er seinen Kollegen an, – "… es sei denn, wir vergessen die Sache…"

"Das heißt, du willst sie laufenlassen?" – fragte der Unterweltler.

"Was soll man sie wegen einer solchen Lappalie ins Gefängnis bringen? Ist doch Blödsinn…" – Mit einer entschlossenen Bewegung steckte er sein Handy zurück in die Tasche.

"Da bin ich aber nun gar nicht dafür", – widersprach der Unterweltler gedehnt. "Strafe muß sein."

"Machen Sie sich bitte keine Gedanken", – wandte sich Aita mit sanfter Stimme an den Intellektuellen. "Wenn Sie mich laufenlassen, werden dafür andere mich einfangen, und Sie riskieren nur unnötigen Ärger. Denn ich fahre immer schwarz…"

"Hörst du?" – rief der Unterweltler triumphierend.

"Ich habe Strafe verdient", – sagte Aita. "Obwohl es volkswirtschaftlich gesehen natürlich Unsinn ist, mich einzusperren. Überhaupt ist das heutige Strafvollzugssystem nicht das, was gebraucht würde!"

"Richtig!" – rief der Unterweltler. "Der reinste Unsinn ist es. Aber trotzdem…"

"Statt die Leute wegen solcher Lappalien einzusperren, sollte man sie besser zu Pflegediensten in Krankenhäusern verurteilen", – sagte der Intellektuelle.

"Für Pflegedienste sind andere sicher besser geeignet als ich", – widersprach Aita. "Aber im Prinzip haben Sie recht. Während der Abbüßung einer Haftstrafe bin ich zu nichts nütze und verursache dem Staat nur unnötige Ausgaben, die in keinem Verhältnis stehen zu den durch mein Schwarzfahren entstandenen Verlusten."

"Das heißt, Sie gehen mit mir einig, daß man die Gefangenen verstärkt zu sinnvoller Arbeit heranziehen soll…"

"Keineswegs", – sagte Aita. "Es geht mir im Gegenteil darum, den Begriff der Strafe in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherzustellen und alle sentimentalischen Beimischungen wie Besserung, Resozialisierung und so weiter wegzulassen. Und im Weiteren geht es dann darum, die in ihrer ursprünglichen, katholischen Klarheit verstandene Strafe besser und effektiver in das soziale Umfeld einzubinden. Zu früheren Zeiten war sie das; doch dann kam der Fortschritt und machte alles kaputt."

"Ich verstehe nicht. Was soll der Fortschritt kaputtgemacht haben?" – fragte der Intellektuelle ungeduldig. Er sah sich offenbar auf der Seite des Fortschritts und fühlte sich verpflichtet, ihn zu verteidigen.

"Zum Beispiel gab es früher den Pranger und die öffentliche Auspeitschung", – sagte Aita. "Das Volk nahm Anteil an der Bestrafung des Verbrechers und hatte sein Vergnügen daran."

"Was?" – wunderte sich der Kontrolleur. Er war zu überrascht, um sich noch entrüsten zu können. "In diese Zeiten wünschen Sie sich zurück?"

"Nein", – antwortete Aita. "In diese Zeiten wünsche ich mich nicht zurück. Das war damals noch zu grobschlächtig. Aber ich finde es betrüblich, daß man verschiedene positive Dinge, statt sie im Zuge des Fortschritts zu entwickeln und zu verfeinern, stattdessen kurzerhand abgeschafft hat."

"Das heißt, wenn es nach Ihnen ginge, würde man eine verfeinerte, fortschrittlichere Form der Prangerstrafe und des öffentlichen Auspeitschens einführen. Wie stellen Sie sich das denn vor?"

"Zum Beispiel könnten Pranger für junge und gut gebaute Frauen in Nachtclubs aufgestellt werden; und auch Auspeitschungen und sonstige Exekutionen an solchen Delinquentinnen könnten an diesen Stätten durchgeführt werden. Der Staat würde mit den Betreibern der Nachtclubs entsprechende Abmachungen treffen oder auch eigene Etablissements eröffnen…"

"Und was ist mit Männern und mit weniger jungen und wohlgestalteten Frauen?" – fragte zweifelnd der Unterweltler, der bis jetzt geschwiegen hatte.

"Das ist eine spezielle Frage, die gesondert behandelt werden müßte", – sagte Aita.

"Und zu welcher Strafe würden Sie sich selbst wegen Ihrer Schwarzfahrerei in einem solchen fortschrittlichen Strafsystem verurteilen?" – fragte belustigt der Intellektuelle, der sich offenbar von seiner Überraschung erholt hatte.

"Nun, so zwei bis drei Wochen Gefängnis würde ich mir schon geben", – sagte Aita. "Von Abends bis spätnachts müßte ich in lockeren Dessous zum Vergnügen der Gäste am Pranger stehen; bei schlechter Führung oder Verstößen gegen die Gefängnisordnung auch schon mal nackt und in Reichweite der Gäste, die mich dann anfassen und zwicken dürften. Und zwei oder drei mal auspeitschen; vielleicht auch häufiger."

"Nicht schlecht", – sagte der Unterweltler.

"Genial", – pflichtete ihm sein Kollege bei. – "Statt in der Sterilität eines heutigen Gefängnisses sinnlos vor dich hin zu vegetieren, würdest du in deinem Bestraftwerden zu einem Objekt öffentlichen Vergnügens."

"Und dann sollte man es zum Beispiel auch so einrichten, daß etwa Kontrolleure, die einen bei wiederholtem Schwarzfahren erwischen, einen nach eigenem Ermessen selbst bestrafen können", – sagte Aita.

"Richtig!" – rief der Unterweltler. "In der Tat ein Skandal, daß solches in den Dienstvorschriften nicht vorgesehen ist. In welchen Zeiten leben wir eigentlich? Mit dem größten Vergnügen nähme ich dich mit nach Hause, um dich nach allen Regeln der Kunst zu bestrafen; und mit solcher Inbrunst würde ich solche Arbeit verrichten, daß ich nicht einmal Angst hätte vor unbezahlten Überstunden!"

"Deine Frau würde dir wat pfeifen", – lachte sein Kollege.

"Wieso?" – wunderte sich Aita. "Andere Männer nehmen doch auch Arbeit mit nach Hause?"

Ein Bus näherte sich der Haltestelle.

„Wir sollten weiter“, – sagte der Intellektuelle. Er zog eine Münze aus der Tasche, drückte sie Aita in die Hand: „Kauf dir davon ´ne Fahrkarte. Und laß dich nicht wieder erwischen!“

Und bevor sie die Münze hätte zurückgeben können, waren die beiden auch schon unterwegs zum Bus, wo neue Opfer ihrer harrten. Der Intellektuelle wandte sich noch einmal um: „Mach's gut!“ rief er.

„Wenigstens hätte man sich ihre Telefonnummer aufschreiben können,“ – ärgerte sich der Unterweltler, bevor sie sich trennten und, wie es sich für Kontrolleure gehört, der eine durch die vordere, der andere durch die mittlere Tür im Gedränge der Fahrgäste im Busse verschwanden.

© Raymond Zoller
Zur russischen Übersetzung




Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

Ausführliche Besprechung bei Amazon findet man über dieses Link