Die Klamurke Belletristik

Die Büroklammer

An einem lauen Frühlingstag vor vielen Jahren verschluckte Ernst Brommsen eine Büroklammer und wurde davon ganz zappelig.

Er hatte sie nicht verschlucken wollen; doch da er sie schon mal verschluckt hatte, begann er darüber nachzudenken, was er nun tun soll.

Denn er wußte nicht, was er tun soll. Er wußte nur, daß das seine letzte Büroklammer war und daß er sie ausgerechnet an einem Sonntag verschluckt hatte. Würde er in Tbilissi leben oder in Moskau, so wäre es nicht von Belang, ob er seine letzte Büroklammer an einem Sonntag verschluckt oder an einem sonstigen Wochentag, denn in Tbilissi oder in Moskau ließen sich auch an einem Sonntag, so man lange genug sucht, Geschäfte finden, wo man eine neue Büroklammer kaufen kann. Doch Ernst Brommsen lebte weder in Moskau noch in Tbilissi; er lebte in Lepquesch an der Risl, und in Lepquesch an der Risl haben sonntags ausnahmslos alle Geschäfte geschlossen.

„Vielleicht verschiebe ich besser die Arbeit auf Montag?“ – dachte Ernst Brommsen. – „Denn am Montag haben alle Geschäfte geöffnet, und wenn alle Geschäfte geöffnet haben, kann ich mich problemlos mit den erforderlichen Büroklammern eindecken".

Ernst Brommsen sollte nämlich einen Artikel schreiben für das Sonntagsblatt. In diesem Zusammenhang mußte er sehr viele Blätter vollschreiben, die nicht durcheinanderkommen durften; denn wenn sie durcheinanderkommen, so braucht es sehr viel Zeit und sehr viele Mühen, um sie wieder zu ordnen. Eben um diese zahllosen vollzuschreibenden Blätter in geordneter Reihenfolge zu fixieren und am Durcheinanderkommen zu hindern hätte Ernst Brommsen jene Büroklammer, die er nun so unglücklich verschluckt hatte, benötigt.

„Sicher besser, wenn ich die Arbeit auf morgen verschiebe“, – dachte Ernst Brommsen. „Doch andererseits“ – dachte er weiter – „verschiebe ich diese Arbeit nun schon seit drei Monaten und fünf Tagen immer wieder auf morgen; und wenn man bedenkt, daß ich nächsten Mittwoch um zehn Uhr den fertigen Aufsatz in die Redaktion bringen muß, so ist es fürwahr höchste Zeit, daß ich damit anfange.“

Ernst Brommsen biß sich auf die Lippen. Mittwoch um zehn in der Redaktion.... Er war gewohnt, alle seine Arbeiten erst im allerletzten Moment anzufangen; doch wurde ihm jedes Mal aufs neue recht schwer ums Herz, wenn er merkte, wie die Zeit knapp wird.

„Wenn man aber hinwiederum die Sache noch näher betrachtet,“ – setzte er seine Überlegungen fort, – „so ist nicht zu übersehen, daß, wenn infolge Fehlens der Büroklammer die Blätter durcheinanderkommen oder gar einzelne Seiten verlorengehen, und wenn man dann alles neu ordnen sowie verlorengegangene Seiten neu schreiben muß – es bei dem dadurch verursachten Zeitverlust kaum gelingen wird, die Arbeit termingerecht abzugeben.

Man bedenke, was das bedeuten würde: Die Arbeit nicht termingerecht abgeben! Solches darf nicht geschehen! Auf gar keinen Fall! Deshalb ist es wohl am besten, wenn ich erst morgen anfange. Genau! Morgen, sobald die Geschäfte aufmachen, kaufe ich mir Büroklammern; und dann fange ich an mit Schreiben. Und selbst wenn ich bis Mittwoch die Nächte durcharbeiten müßte, so wäre das immer noch besser, als wenn ich heute anfange und wenn dann infolge Fehlens der Büroklammer alles durcheinanderkommt.“

Also dachte Ernst Brommsen; und ganz licht und froh ward ihm darob ums Herz. Und dann zog er sich um und machte sich auf den Weg ins Puff, wo heute, wie jeden Sonntag, die blonde Sekretärin aus dem Sonntagsblatt ihr Gehalt aufbesserte. Erst kürzlich hatte er hiervon erfahren; und da sie ihm außerordentlich gut gefiel, konnte er es kaum erwarten, sie auf solchem Wege näher kennenzulernen.

„Wenn sie mich nach dem Aufsatz frägt, sage ich einfach, er sei schon fast fertig“, – dachte Ernst Brommsen und beschleunigte seine Schritte, damit nicht jemand anders sie ihm wegschnappe.

© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
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Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


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Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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