Die Klamurke Belletristik

Die Hexe

Als der Großvater und die Großmutter einstens im Walde beim Beerenpflücken waren, kam eine böse Hexe des Weges und fragte, wieviel Uhr es sei. Der Großvater antwortete, er habe leider keine Uhr dabei; doch die Großmutter erinnerte sich, daß sie vor zwei Stunden zu Hause auf die große alte Wanduhr geschaut hatte, und auf der sei es vor zwei Stunden genau drei Uhr und vier Minuten gewesen. Und da die große alte Wanduhr immer sehr genau geht, sei es jetzt folglich fünf Uhr und vier Minuten.

Die böse Hexe bedankte sich artig und ging weiter.

Nicht lange war sie fort, da kam eine große graue Eule herangeflogen; die setzte sich auf einen Ast und schaute den Großvater aus ihren runden Augen fragend an. Der Großvater aber dachte, das sei eine Elfe, mit der er ein Verhältnis hatte und die sich manchmal in Tiere verwandelte. Er verfiel in unruhiges Sinnen; und nachdem er kreuz und quer herumgedacht hatte, sagte er zu der Großmutter, es sei doch eigentlich merkwürdig, daß er seine Uhr nicht dabei habe. Er sei sicher, daß er sie zu Hause eingesteckt hat; und er habe sie wohl unterwegs verloren; und da sei es zweifellos besser, den Weg zurückzugehen, den sie gekommen, und nach ihr zu suchen, bevor jemand anders sie findet; denn es könne doch jemand vorbeikommen, der die Uhr sieht und, weil er selbst keine hat, sie mitnimmt; oder aber daß ein Blatt drauffällt und sie verdeckt; denn obwohl es noch nicht Herbst ist, fallen immer wieder Blätter von den Bäumen herunter; und wenn ein solches Blatt auf seine Uhr fällt, so kann er sie nicht mehr sehen; und deshalb sei es sicher besser, sie zu finden, bevor ein Blatt draufgefallen ist, weil er sie sonst nicht mehr finden kann; und die Großmutter soll sich bitte nicht beunruhigen und ruhig weiter Beeren pflücken; und er werde, sobald er die Uhr gefunden hat, sogleich wieder zurückkommen und fortfahren, ihr zu helfen.

Die Großmutter wunderte sich sehr; doch ließ sie ihn ziehen und fragte weiter nicht nach.

***

Gesenkten Kopfes, den Blick konzentriert auf seine Füße gerichtet, ging der Großvater langsam den Weg zurück, den sie gekommen. Doch kaum war er um die erste Wegbiegung herum und außer Sichtweite, wie auch schon sein Auge sich hoffnungsvoll in die Ferne wandte und sein Schritt sich beschleunigte; und alsbald schon kroch er in die Büsche und begab sich über versteckte Pfade zu dem verborgenen Waldsee, an dessen malerischen Ufern er sich niedersetzte und wartete.

Nicht lange dauerte es, da kam auch schon die große graue Eule herangeflogen. Sie setzte sich auf einen moosbewachsenen Stein, der ganz in der Nähe am Ufer lag; und kurz darauf verschwand sie in einer dichten wirbelnden Rauchwolke. Wie aber der Rauch sich verzog, da saß auf dem Steine nicht die erwartete liebliche Elfe, sondern jene böse Hexe, die vorhin nach der Uhrzeit gefragt hatte. Sie stieß ein schrilles Gelächter aus und begann, den Großvater mit solchen Worten zu verspotten und zu verhöhnen, wie man sie schlimmer und gehässiger sich nicht denken kann.

Der Großvater sprang auf, flüchtete in die Büsche und kroch eilig über die verborgenen Pfade zurück auf den Weg; und wie er glücklich bei der Großmutter wieder anlangte, wunderte die sich gar sehr, daß er noch verwirrter war als vorhin und fragte, ob er krank sei und ob sie ihm einen Tee kochen soll. Der Großvater antwortete, es sei alles in Ordnung; er habe sich nur daran erinnert, daß er seine Uhr doch nicht eingesteckt hat und daß sie wohl noch immer zu Hause auf der Kommode liegt.

Und ohne noch etwas zu sagen, machte er sich mit einer solchen Inbrunst ans Beerenpflücken, daß die Großmutter aus dem Staunen nicht mehr herauskam und sich fragte, warum denn der Großvater plötzlich so fleißig wurde?

© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





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Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


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Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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