Die Klamurke Belletristik

Wilhelm von Dorten

Brief

an einen unerwartet wieder aufgetauchten Ertrunkenen




Lieber Herr Wilhelm von Dorten!

Gestern las ich in der Zeitung Ihren Namen.

Von ganzem Herzen möchte ich Ihnen gratulieren für das Erreichen der dort erwähnten Höhen und gleichzeitig mir erlauben, mit weiter unten ausgeführtem Anliegen an Sie heranzutreten.

Sicher können Sie sich an mich erinnern. Wir lebten lange Jahre in der gleichen Stadt; und nicht selten hatte ich das Vergnügen, Sie auf der Straße vorbeigehen zu sehen und Sie zu grüßen. Und Sie, in Ihrer höflichen und zurückhaltenden Art, grüßten zurück.

Als Sie vor zwei Jahren in den Fluß fielen, stand ich am Ufer und schaute zu.

Natürlich - damals standen viele am Ufer und schauten zu; denn es kommt ja nicht so oft vor, daß am hellichten Tage einer in den Fluß fällt und ertrinkt. Aber ich weiß, daß ich Ihnen aufgefallen bin, da Sie nämlich wiederholt zu mir herüberschauten. Vielleicht erinnern Sie sich? Ich bin mittelgroß und leicht korpulent (obwohl ich jedes Jahr eine Abmagerungskur mache) und stand an der Anlegestelle, direkt neben dem Rettungsring und dieser Stange mit dem Metallaufsatz. Was man zu solchen Momenten zwischen Leben und Tod durchlebt prägt sich einem, wie allgemein bekannt, unauslöschlich ein; so daß Sie sich zweifellos erinnern können.

Ich fand es schade, außerordentlich schade, daß Sie ertrinken. An Ihren energischen Bewegungen, an Ihrer ganzen Art, wie Sie sich bemühten, nicht unterzugehen, konnte man erkennen, daß Sie ein außergewöhnlicher, reich veranlagter Mensch sind und daß Sie, wenn Sie nicht ertrinken würden, ganz sicher noch einen besonderen und erfolgreichen Weg vor sich hätten und daß es Ihnen vielleicht sogar vergönnt sein könnte, in hervorragender Weise Ihren im Dunkel verirrten Zeitgenossen zum Lotsen zu werden.

Die Strömung trieb Sie dann weiter den Fluß hinab, hinaus aus meinem Gesichtsfeld; und ich mußte davon ausgehen, daß Sie in der Folge ertranken; wie betrüblich auch immer das sein mochte.

Doch wie erfreut war ich, als ich gestern in der Zeitung Ihren Namen las und feststellen durfte, daß Sie damals wider alles Erwarten nicht ertrunken sind und daß Sie darüber hinaus sich tatsächlich auf einen von Erfolg gekrönten besonderen Weg begeben durften (welchletztere Möglichkeit ich, wie weiter oben erwähnt, in der Tat bei Ihnen vermutete).

Sie sind doch nun sehr einflußreich; und im Zusammenhang damit wollte ich Ihnen mitteilen, daß die Arbeit in jenem Büro, in welchem ich nun schon seit Jahren meinem Broterwerb nachgehe, mich gar sehr in meiner geistigen Entwicklung behindert; und gleichzeitig erlaube ich mir Sie zu bitten, unter Ausnutzung Ihres Einflusses mich an einer Stelle unterzubringen mit besserer Bezahlung und günstigeren Aufstiegsmöglichkeiten.

Mit den alleruntertänigsten Grüßen und den besten Glückwünschen

Ihr Erwin Sopha




Als Ergänzung, Mai 2012:
Leicht überarbeitete Stelle aus einem Brief an einen Betroffenen, darin auf obigen Text Bezug genommen wird.
Das Unangenehme an diesem Text ist, daß er ein naturgetreues Abbild der herrschenden Geistesart unserer Zeit bietet.
So lange einer gegen das Untergehen kämpft, ist er nun mal ein Ertrinkender, von dem ein normaler Mensch sich keine Vorteile erhoffen kann und für den aus ebenjenem Grund ein normaler Mensch keinen Finger rührt.
Menschen, bei denen mehr oder weniger „Besonderes“ sich herausentwickeln will, waren zu allen Zeiten in solcher Lage; nur daß sie unter den heutigen Bedingungen kaum noch eine Chance haben. Denn jedwedes mehr oder weniger „Besonderes“ unterscheidet sich von dem, was die braven Bürgersleut‘ gewöhnt sind, und kann in den Augen selbiger nur Unsinn oder Spinnerei sein oder noch schlimmeres. Und wer denn, sich mit seinen Anlagen zunächst selbst nicht recht verstehend, in die Ecke gedrängt wird, verfällt in seiner Bedrängnis vorübergehend oder für länger den verschiedenartigsten Schrulligkeiten und liefert damit seiner Umgebung den Beweis, daß ja nu wirklich nix mit ihm anzufangen ist.
Man muß heute, der Anlage nach, kein herausragendes Genie sein, um in solche Lage zu kommen: der Mensch als solcher wird beiseitegedrängt und geht unter; was bleibt ist der fade Durchschnitt mit seinen nach eigenem Bild und Gleichnis geschaffenen Göttern (in Neudeutsch nennt man sie „Promis“; eine Wortschöpfung von gewaltiger Kühnheit, von der man später, wenn die Menschheit – vielleicht – aus ihrem Tiefschlaf aufgewacht ist, sagen wird, daß sie in idealer Weise das zu Bezeichnende charakterisiert) und seinem Fortschritt in Gestalt von in bunten Verpackungen marktschreierisch vorgestelltem Altem.
Wenn es dann mal passiert, daß ein solcher Ertrinkender plötzlich sicher auf eigenen Beinen steht, mitunter sogar sicherer als man selbst, so wird er damit zu einem Menschen, der einem nützlich werden kann. Man vergißt, daß das irgendwann mal ein Ertrinkender war, für den man vernünftigerweise keinen Finger rührte; oder, wenn solche Vergangenheit sich nicht wegleugnen läßt, wird sie im nachhinein etwas idealisiert; und nun beginnt man verstohlen, den Kontakt zu suchen und sich einzuschmeicheln.
Selbst bin ich da recht schroff. Mit Leuten, die mich in schwierigen Situationen hängenließen oder mir gar noch zusätzlich Probleme bereiteten, obwohl sie leicht – teilweise nicht nur zu meinem, sondern auch zu ihrem Nutzen – beim Bereinigen der Situation hätten helfen können – mit denen rede ich gar nicht mehr. Mit einigen würde ich den Kontakt wieder aufnehmen, aber nur nach gründlicher Aussprache: sie müssen wissen, was sie kaputtgemacht haben. Nicht, damit sie sich abstrakt „entschuldigen“, sondern damit Klarheit herrscht.
In der Situation, daß solches Volks einschmeichelnd Kontakt suchen möchte, bin ich sowieso nicht; bin bloß nicht mehr in dem Maße ein Ertrinkender wie früher, aber immer noch am Kämpfen: gemeinsam mit Menschen, die selbst zu kämpfen haben, und nicht verloren unter abstrakten Welterrettern. Innerlich hab ich meine „Linie“ gefunden und seh auch, mit wem man reden kann und mit wem nicht. Und reine Welterrettungsschwafler erkenn ich sofort und glaub ihnen kein Wort mehr.
Man kann ja natürlich nicht allen „Ertrinkenden“ helfen. Aber es gibt solche „Schicksalsknoten“, wo einzelne konkrete Menschen viel bewirken können oder könnten; und wenn die sich dann desinteressiert abwenden, geht es nun mal leicht schief. (Unter denjenigen, mit denen ich selbst aus erwähnten Gründen nichts mehr zu tun haben will, gibt es nicht wenige, die selbige Gesetzmäßigkeit von der Theorie her sogar kennen und sehr klug darüber zu referieren wissen.)
Als Kämpfender und Ertrinkender muß man in dieser Hinsicht wissen, in was für einer Zeit wir leben.
© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

Ausführliche Besprechung bei Amazon findet man über dieses Link