Die Klamurke Belletristik

Der schwarze Büstenhalter

Ich mag es nicht, wenn vor mir auf dem Wege drei Steine liegen in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks; und noch viel weniger mag ich es, wenn die Spitze dieses Dreiecks genau auf eine leere Bierflasche zeigt.

Am liebsten wäre ich umgekehrt. Doch da es einen anderen Weg, der mich zu dem angestrebten Ziele hätte führen können, nicht gab, blieb mir keine andere Wahl, als weiterzugehen.

Damit diese unglückliche Konstellation sich auflöse, gab ich, bevor ich weiterging, mit meinem rechten Fuße dem Stein, der zur Rechten lag, einen Schubs, und gleich darauf mit dem linken Fuß dem Steine zur Linken. Die Steine flogen, ein jeder auf seine Weise, in hohem Bogen nach vorn, kullerten, die überschüssige Energie verbrauchend, noch ein Stückchen weiter und kamen schließlich zur Ruhe. Und wie ich sie so liegen sah, da packte mich esoterisches Erschauern: nämlich hatte sich durch meine Einwirkung das auf die Bierflasche deutende gleichschenklige Dreieck in ein gleichseitiges Dreieck verwandelt, in dessen Zentrum nun jene Bierflasche lag. Das Äußere nach innen verbannend, hatte sich eine geheimnisvolle Umstülpung vollzogen; eine Umstülpung, an welcher ein Mensch, dem die esoterischen Untergründe des Seins nicht bloßer Wortklang sind, unmöglich achtlos vorbeigehen kann.

Was das bedeutet – wußte ich nicht. Aber es konnte kein Zweifel bestehen, daß es etwas bedeutet. Zwar sah die Bierflasche aus, als sei sie eine Bierflasche wie jede andere Bierflasche auch; doch ein jeder, der für die esoterischen Untergründe des Seins auch nur das leiseste Gespür hat, weiß, daß das nicht der Fall sein kann. – Vorsichtig hob ich sie heraus aus dem sie umhüllenden Dreieck und unterzog sie einer eingehenden Betrachtung. Meine Vermutung, daß in ihrem Innern ein Zettel liege mit geheimnisvoller Botschaft, bestätigte sich nicht, denn ein Zettel lag nicht drin. Dafür entströmte ihr intensiver Biergeruch. Sicher lag sie noch nicht lange an diesem Orte; da sonst das Bier längst ausgetrocknet wäre und keinen Geruch mehr verströmen könnte. Doch da es sich nicht um eine gewöhnliche Bierflasche handelte, konnte es auch anders sein.

Ich beschloß, sie mit nach Hause zu nehmen. Vielleicht haben irgendwelche helfende Geister ihre Behausung darin aufgeschlagen; und sicher kann es nicht schaden, solche helfenden Geister im Hause zu haben. Und selbst wenn es keine helfenden Geister sind, sondern schreckliche Dämonen, so wäre das weiter nicht schlimm, da auch schreckliche Dämonen ihre Reize haben und zweifellos geeignet sind, etwas Abwechslung zu bringen in meinen normalerweise tristen und langweiligen Alltag.

Nachdenklich zog ich weiter meines Weges, die Hände hinter dem Rücken und in der Rechten die leere Bierflasche, die in dem Schatten, der mich zu meiner Linken begleitete, wie ein auf und ab wippender Stummelschwanz aussah.

Doch dann fiel mir plötzlich ein, daß ich doch nicht mit einer leeren Bierflasche in der Hand durch die Straßen unseres Dorfes laufen kann. Was sagen da die Leute! Ich steckte sie in die Jackentasche; doch der Hals ragte heraus, und das sah noch schlimmer aus, als wenn ich sie in der Hand getragen hätte. Auch in die Hosentasche paßte sie nicht.

Vielleicht ist das, wider Erwarten, überhaupt eine völlig normale Bierflasche? Wenn es eine völlig normale Bierflasche ist, so lohnt es sich nicht, sie mit sich herumzuschleppen und sich dem Gelächter der Leute auszusetzen. Feststellen, ob das eine normale Bierflasche ist oder nicht kann nur ein Exorzist oder sonst jemand Hellsichtiges. Ich selbst bin nicht hellsichtig; ich selbst habe nur, ganz allgemein, ein Gespür für die esoterischen Untergründe des Seins, und sonst weiter nichts. Woher sollte ich wissen, was das für eine Bierflasche ist? Ich kann es nicht wissen.

Und ich warf sie in hohem Bogen in die Büsche, die zu meiner Rechten den Wegrand säumten.

Genau zu dem Moment, da sie in den Büschen verschwand, schrie ein Kauz; und kurz darauf gab es ein dumpfes Klirren, als sei die Flasche auf eine andere Flasche aufgestoßen.

Das machte mich stutzig. Der Kauzesschrei hat sicher etwas zu bedeuten; und vielleicht ist die Flasche, auf die sie draufgefallen ist, eben diejenige Flasche, auf die es ankommt? Ich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen und kroch in die Büsche. Die Büsche waren stachelig und der Untergrund schlammig; so daß die Suche nach der Flasche in eine äußerst beschwerliche Prozedur ausartete. Doch da die Sache mir wichtig schien, ließ ich mich nicht beirren.

Plötzlich erblickte ich durch das Gestrüpp einen senkrecht über dem Erdboden schwebenden länglichen Gegenstand von schwarzer Farbe. Ich kroch darauf zu und gelangte auf eine mit üppigem Moos bewachsene Stelle, wo die Büsche nicht ganz so dicht waren und wo ich mich halbwegs aufrichten konnte. Und noch während ich mich auf diesen freien Platz hinausrobbte und langsam aus der liegenden Kriechhaltung in die bequemere Hocke überwechselte, gelang es mir, den länglichen Gegenstand als einen schwarzen Büstenhalter zu identifizieren.

Ich mag schwarze Büstenhalter; vor allem dann, wenn sie einen ansprechenden Inhalt umkleiden. Dieser hier hing zwar an einem Zweig und war folglich ohne; doch mein geübtes Auge zeigte mir sofort, daß er seiner Größe und Form nach eben für einen meinem Geschmack entsprechenden Inhalt vorgesehen war; und man mußte vermuten daß, bevor er in diesen Büschen in hängender Position sich selbst überlassen wurde, einen solchen umhüllt hatte.

Das eine Ende dieses Büstenhalters war auf einen dieser langen Stacheln aufgesteckt, wie sie mich auf meinem Wege hierher so arg zerkratzt hatten, die Körbe waren leicht durchschimmernd und mit weißer Spitze besetzt; und wie ich meine Augen weiter nach unten wandern ließ – da gewahrte ich, daß das andere Ende genau auf eine im Moos versteckte Bierflasche deutete.

Eine Bierflasche war’s, die mich zu diesem Büstenhalter geführt hat; und nun führt mich der Büstenhalter wieder zu der Bierflasche! Das kommt nicht von ungefähr! Zudem hat die Bierflasche mit dem Büstenhalter jene Besonderheit gemeinsam, daß beide nur in Verbindung mit einem entsprechenden Inhalt von Bedeutung sind: denn was ist eine Bierflasche ohne Bier, ein Büstenhalter ohne Brüste!

Vorsichtig klaubte ich die Bierflasche aus dem Moos. Kein Zweifel: Genau diejenige war es, die ich eben erst in die Büsche geworfen hatte! Und aus ihrem Schlund strömte weiterhin der Geruch nach Bier. Doch wo war die zweite Flasche? Denn unüberhörbar war sie mit einer zweiten Flasche zusammengeprallt. Und schon erblickte ich nicht weit entfernt die Scherben einer Champagnerflasche. Offenbar war die Bierflasche da drauf geprallt, hatte sie in Scherben geschlagen und war weitergeflogen zu ihrem Bestimmungsort unter dem Büstenhalter. Da die Champagnerflasche bei dem Treffen zu Bruch gegangen war, handelte es sich bei ihr somit wohl nicht um die Flasche, auf die es ankommt. Sicherheitshalber suchte ich in den Scherben nach einem Zettel mit geheimnisvoller Botschaft; und da ich nichts fand, ging ich davon aus, daß wohl keiner drin war und daß man als Ziel, zu dem die Bierflasche mich führen sollte, wohl den Büstenhalter zu betrachten hat. Doch auch die Bierflasche, für sich genommen, ist sicher nicht ohne Bedeutung; und ich beschloß, sie wieder an mich zu nehmen.

Vorsichtig zog ich den Büstenhalter von dem Stachel, auf den er aufgesteckt war, ab und steckte ihn in die Tasche; und dann kroch ich, in der Linken die Bierflasche, hinaus auf den Weg.

Und kurz darauf bewegte ich mich wieder, die Hände auf dem Rücken, den Kopf nachdenklich gesenkt, meinem Ziele entgegen. In meiner linken Jackentasche steckte der Büstenhalter, und in der rechten Hand trug ich die Bierflasche, deren Schatten wie ein Stummelschwanz auf und ab wippte.

Weitere Abenteuer ereilten mich nicht mehr, und auch die Leute, die ich auf der Straße traf, schienen sich an meiner leeren Bierflasche nicht zu stören. Wer mich kannte, grüßte freundlich, und wer mich nicht kannte, beachtete mich nicht; und unbehelligt erreichte ich meine behaglich eingerichtete Wohnung, wo ich den Büstenhalter mit Hilfe eines Reißnagels über der Kommode an die Wand heftete; und zwar solcherart, daß ich die Spitze des Reißnagels durch jenes vom Dorn in den Rückenträger gebohrte Loch führte. Genau darunter stellte ich die Bierflasche; und da ich den Büstenhalter nicht hoch genug gehängt hatte, stand sie sogar teilweise davor und verbarg das Ende das Trägers.

Die Komposition betrachtend, überlegte ich, was nun weiter geschehen könnte und was zu beachten ist, damit es tatsächlich geschehe. Dem gesunden Menschenverstand nach müßte die Fortsetzung in einer Frau bestehen, die einen schwarzen Büstenhalter trägt. Da die Bierflasche sichtlich nur eine vermittelnde Rolle gespielt hat, wird eine solche Frau nicht unbedingt Bier trinken; was auch besser ist, da ich biertrinkende Frauen nicht mag.

Um die magische Wirkung zu verstärken, beschloß ich, die Bierflasche auf eine dreieckige Stoffunterlage mit goldbesticktem Rand zu stellen; und prompt begab ich mich in die Schneiderei schräg gegenüber, um eine solche in Auftrag zu geben.

Die Näherin, die meinen Auftrag entgegennahm, wollte wissen, von welcher Farbe die Stoffunterlage sein soll; und auch die genaue Größe wollte sie wissen. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Mir fiel ein, daß es magisch wohl am günstigsten wäre, wenn die Seiten des Dreiecks den Bierflaschenboden als Tangenten eng umhüllten, und wenn zudem die Unterlage von gleichem Stoffe und gleicher Farbe wäre wie der Büstenhalter. Doch dazu hätte ich den Büstenhalter und die Bierflasche mitbringen müssen. — Ich hätte über die Straße zu meiner Wohnung eilen können, um sie zu holen; doch wollte ich einerseits nicht unnötig Zeit verlieren, und andererseits wollte ich nicht, daß die Näherin, die ungewöhnlich attraktiv war und die mir infolgedessen sehr gut gefiel, mich wegen des Büstenhalters für einen Fetischisten halte; denn sowas wäre mir sehr peinlich gewesen. Deshalb nannte ich als Seitenlänge auf Geratewohl zehn Zentimeter, und als Farbe schwarz.

Die Näherin, die, wie gesagt, sehr attraktiv war, hatte grad Zeit und machte sich sofort ans Werk; und wie ich, während sie mit geübten Fingern aus einem schwarzen Stoffrest ein gleichseitiges Dreieck herausschnitt, ihr in den Ausschnitt schaute, da sah ich, daß sie einen schwarzen Büstenhalter trug; und da dies in vorliegender Konstellation zweifellos etwas zu bedeuten hatte, beschloß ich, sie zu verführen, um den Dingen, die ihren Lauf nehmen wollten, die Gelegenheit dazu zu geben. Doch bevor ich erste Schritte in diese Richtung hätte unternehmen können, erfuhr ich, daß sie einen Verlobten hat, welcher in unserem Sportverein in Boxen und Karate sich übt, und deshalb zog ich es vor, von der Ausführung besagten Vorhabens abzusehen.

Seitdem steht auf meiner Kommode, umrahmt von goldenem Spitzenrand, jene Bierflasche, und über ihr hängt an einem Reißnagel der Büstenhalter; und wer das sieht, wundert sich sehr. — Da meine Freunde allesamt kein Gespür haben für die esoterischen Untergründe des Daseins sage ich einfach, das sei ein Kunstwerk, welches ein befreundeter Künstler mir zum Geburtstag geschenkt hat; womit alle Fragen restlos geklärt sind und jegliches Gefrotzel über die Herkunft des Büstenhalters verstummt. Denn ein zum Kunstwerk ernannter Büstenhalter hört für einen gebildeten Menschen sofort auf, ein Büstenhalter zu sein und verwandelt sich in ein allem Irdischen enthobenes unbestimmtes und unbestimmbares Etwas. Ob das bei weniger gebildeten Menschen auch so wäre, weiß ich nicht, da ich mich nur mit gebildeten Menschen umgebe und die Gepflogenheiten ungebildeter Menschen somit nicht kenne.

Was aber all dies zu bedeuten hat, ist mir bis heute ein Rätsel.

© Raymond Zoller

Zur russischen Fassung






Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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