Die Klamurke Belletristik

Die rote Rita und das Nashorn

Als Hürgokh aus jener Höhle, in die er frühmorgens hineingekrochen war und die er für einen Dachsbau hielt, wieder herauskroch, verkündete die Sonne durch ihren hohen Stand das Herannahen der Mittagszeit.

Hürgokh rieb sich geblendet die Augen; und wie er sich an das grelle Tageslicht gewöhnt hatte und sich umsah, da durchfuhr ihn wildes Entsetzen.

„Wo ist das Nashorn?“ – rief er.

„Welches Nashorn?“ – fragte ein Herr, der zwanzig Schritte weiter an einem Apfelbaume lehnte und Pfeife rauchte.

„Das Nashorn, welches ich, bevor ich in den Dachsbau kroch, an der Tanne dort festband“, – antwortete Hürgokh und deutete auf eine alleinstehende Fichte. Ganz aufgeregt war er; so aufgeregt, daß er fast stotterte.

„Dachsbau?“ – wunderte sich der Herr. – „Welchen Dachsbau meinen Sie?“

„Den Dachsbau, in welchem ich den ganzen Vormittag auf der Suche nach einer Begondode verbrachte und den ich grad eben vor Ihren Augen verlassen habe“, – sagte Hürgokh, schon etwas ruhiger.

„Bei dem Ort, den Sie soeben verlassen haben, handelt es sich nicht um einen Dachsbau, sondern um eine Bärenhöhle“, – verbesserte der Herr. – „Wäre es ein Dachsbau, so hätten Sie vermutlich nicht hineingepaßt, weil ein Dachsbau viel kleiner ist.“ – Der Herr nahm einen kurzen Zug aus seiner Pfeife. – „Wenn ich Ihre Worte richtig deute, haben Sie also heute früh an jene Tanne, die eigentlich eine Fichte ist, ein Nashorn festgebunden und sind anschließend in die Bärenhöhle gekrochen.“

„Was für ein Unterschied, ob Dachsbau oder Bärenhöhle“, – murmelte Hürgokh zerstreut. „Ich bin da rein“ – er deutete auf den Höhleneingang hinter sich – „und grad eben bin ich wieder raus. Und das Nashorn ist weg.“

„Als ich herkam, stand an jener Fichte ein Nashorn“, – sagte der Herr. – „Es stand da und fraß Gras. Und dann lief es plötzlich weg.“

„Wie konnte es weglaufen? Mit einem kräftigen Tau hatte ich es festgebunden an jener Tanne oder Fichte!“ – protestierte Hürgokh.

„Vielleicht hat es das Tau entzweigerissen“, – zuckte der Herr die Achseln. – „Oder Sie haben den Knoten nicht richtig geknüpft, und er ist wieder aufgegangen.“

„Meine Knoten gehen häufig wieder auf“, – sagte Hürgokh. – „Ich habe nie gelernt, richtige Knoten zu knüpfen. Und nun ist das Nashorn weggelaufen. Können Sie mir sagen, seit wann es weg ist?“

„Seit über einer Stunde ist es weg“, – antwortete der Herr. – „Es lief den Hang hinab, vorbei dort an jenem Apfelbaume; und weiter schaute ich ihm dann nicht mehr nach.“

„Seit über einer Stunde...“ – Hürgokh überlegte. – „Wenn Sie es vor über einer Stunde zuletzt an jenem Apfelbaume gesehen haben, so ist es jetzt vermutlich schon sehr weit weg, und es macht keinen Sinn, nach ihm zu suchen. Da tu ich wohl besser, ins Puff zu gehen...“

„Wenn Sie ein gutes Puff suchen, kann ich Ihnen das Violette Nashorn in der Karl-Friedrich-Straße empfehlen“, – sagte der Herr. „Und im Violetten Nashorn würde ich unbedingt die rote Rita probieren.“

„In der Karl-Friedrich-Straße das Violette Nashorn...“ – murmelte Hürgokh und zog sein Notizbuch aus der Tasche. – „Und im Violetten Nashorn die Rote Rita... Ich schreib’s besser auf, sonst vergeß ich es noch. Vielen Dank auch.“

„Nichts zu danken“, – antwortete der Herr. „Ich rauche derweil meine Pfeife zu Ende, und sollte das Nashorn zurückkommen, so bind ich es wieder an jene Fichte.“

Hürgokh ging stracks in die Stadt ins Violette Nashorn und vergnügte sich mit der roten Rita; und während er sich mit der roten Rita vergnügte, kam das Nashorn zurück an jene Stelle, und der Herr band es, wie versprochen, an der Fichte fest. – Die rote Rita aber gefiel Hürgokh so gut, daß er alles andere vergaß; und keine Woche war vergangen, da heiratete er sie. Und wie er viele Jahre später mit seiner Frau und einer großen Kinderschar bei einem Ausflug im Schatten einer Fichte ein Nashornskelett entdeckte, da gedachte er jenes schicksalhaften Tages.

© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





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Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
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ISBN: 978-3-940185-25-9


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Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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