Die Klamurke Belletristik

Der Baumeister

Es begann damit, daß Erzherzog Rherry, den man auch Rherry den Fetten nannte, obwohl er eigentlich nicht fett war, sondern eher hager, den man aber trotzdem den Fetten nannte, weil er nämlich ein Vetter war von Otto dem Fünften, und der war in der Tat saudick, in seinem Hirschpark über eine Holzbrücke ging.

Warum Erzherzog Rherry damals über jene Brücke ging, konnte nicht mehr geklärt werden; überliefert ist nur, daß sie über einen reißenden Wildbach führte und genau zu dem Moment, da der Erzherzog ihre Mitte überschritt, entzweibrach.

Nimmer werden wir erfahren, ob sie auch entzweigebrochen wäre, wenn Erzherzog Rherry zu besagtem Momente sich nicht in ihrer Mitte befunden hätte; wenn er, zum Beispiel, schon oder erst an ihrem äußersten Ende gewesen wäre oder gar in seinem Arbeitszimmer gesessen hätte, beschäftigt mit der Untersuchung eines seltenen Kristalls oder sonst einer interessanten Sache; und nur Vermutungen anstellen können wir zu der Frage, ob es gar das Gewicht war von Erzherzog Rherry, welches, indem es in der Mitte der Brücke einen zusätzlichen Druck ausübte, selbige zum Einsturz brachte. All dies zu erfahren ist uns nicht mehr vergönnt. Die Brücke stürzte ein; das ist alles, was wir wissen.

Bei diesem unerwartet hereingebrochenen Ereignisse fiel Erzherzog Rherry in den Bach und wurde ganz außerordentlich naß. Sogleich verließ er das Wasser und suchte sein Schloß auf und seine Gemächer, auf daß er sich abtrockne und ein neues Gewand überziehe; und kaum hatte er dies vollbracht, wie er auch schon den obersten Fahnder seines Reiches rufen ließ und ihm befahl, unverzüglich den Baumeister ausfindig zu machen, der für den Bau der Brücke verantwortlich zeichnete.

Der oberste Fahnder des Reiches war ein tüchtiger Mann; und nicht lange währte es, da hatte er den Baumeister auch schon ermittelt und erstattete Bericht; und sogleich machte sich Erzherzog Rherry, dessen Haar noch ganz naß war von dem Wasser des Wildbachs, an der Spitze einer Abteilung bis an die Zähne bewaffneter grimmiger Soldaten auf den Weg, um den Baumeister in Ketten zu legen und für sein frevelndes Tun zu bestrafen.

***

Der Baumeister, der nichts Böses ahnte, saß mit seiner Frau und seinem munteren Töchterlein am Mittagstische und aß Bratkartoffeln, die seine Frau ihm bereitet hatte, und trank Dickmilch mit frisch geschnittenem Schnittlauch. – Plötzlich erschallte draußen ein schauriges Hornsignal. Das Töchterlein eilte leichtfüßig zum Fenster und sagte, da sei der Erzherzog und irgendwelche Soldaten. — "Was will der denn hier?" brummte der Baumeister. Und schon dröhnten dumpfe Schläge gegen die eichene Tür, und eine rauhe Stimme rief: "Im Namen des Erzherzogs! Aufmachen!"

"Gleich!" – rief das Töchterlein und nestelte am Knoten seiner rauhen Küchenschürze.

"Laß die Schürze besser an", riet der Baumeister. "Dein Ausschnitt bringt den Erzherzog noch auf dumme Gedanken."

Doch das Töchterlein hatte die Schürze, unter der sich ein Kleid mit abgrundtiefem Ausschnitte verbarg, bereits abgestreift und öffnete die Tür.

In der Tür stand breitbeinig ein sehr großer Offizier, der, wie die Tür geöffnet wurde, sofort beiseite trat und die Sicht freimachte auf den hinter ihm stehenden etwas kleineren Erzherzog.

"Wo ist der Baumeister?" – rief der Erzherzog mit zitternder Stimme. "Ich will den Baumeister sehen!"

Doch dann fiel sein Blick auf das Töchterlein. Er stutzte und wirkte plötzlich leicht verwirrt.

"Meinen Sie mich?" – fragte der Baumeister, ohne sich vom Tische zu erheben. "Lassen Sie sich durch ihren Ausschnitt nicht verwirren.... Ganz ihre Mutter; die lief in ihrer Jugend auch so herum..."

Der Erzherzog hatte sich wieder gefangen und betrat festen Schrittes die Stube. – "Was stehst du nicht auf, wenn du mit deinem Erzherzog sprichst?"

Der Baumeister blickte ihn erstaunt an und zuckte die Achseln.

Erzherzog Rherry, der solch ehrfurchtsloses Benehmen nicht gewöhnt war, geriet wieder in Verwirrung.

"Hast du die Brücke gebaut?" – fragte er.

"Welche Brücke?" – fragte der Baumeister zurück. – "Wollen Hochwohlgeboren nicht ein paar Bratkartoffeln probieren? Mit Dickmilch schmecken sie ausgezeichnet."

"Die Brücke, welche unter mir zusammenbrach und mich in den Wildbach stürzte", – sagte der Erzherzog.

"Eine solche Brücke ist mir nicht bekannt", – antwortete der Baumeister.

"Legt ihn in Ketten!" – brüllte Erzherzog Rherry.

Im Nu stürmten grimmige Bewaffnete in die Stube; und eh man sich versah, war der Baumeister auch schon in Ketten gelegt.

"Abführen!" – kommandierte Erzherzog Rherry. – "Mag er bei Wasser und Brot darüber nachsinnen, was es bedeutet, eine Brücke zu bauen, die unter Erzherzog Rherry zusammenbricht!"

Und schon führten die Soldaten den gefesselten Baumeister hinaus.

"Wirst du zum Abendessen zurück sein?" – rief die Frau ihm nach.

"Denk schon", – antwortete von draußen die ruhige Stimme des Baumeisters.

"Im Gefängnis wird er darben und über seine Missetat nachsinnen", – widersprach Erzherzog Rherry grimmig.

"Über welche Missetat?" – erkundigte sich die Frau.

"Soll ich dich auch in Ketten legen lassen?" – fragte Erzherzog Rherry.

"Nee, wieso?" – wunderte sich die Frau. – "Machen Sie sich keine Umstände; ich fühl mich ganz wohl ohne Ketten."

"Dann stell keine so dummen Fragen!" – sagte Erzherzog Rherry.

Nunmehr wandte er sich dem Töchterlein zu:

"Und auch dich, als blutsmäßige Tochter eines Vaterlandsverräters, werd ich nunmehr in Ketten legen und durch meine Soldaten meinem Schlosse zuführen lassen, auf daß auch du die Strenge meiner Strafe zu spüren kriegest."

"Es wär mir eine hohe Ehre, von Ihren Soldaten in Ketten gelegt und in Ihr Schloß gebracht zu werden", – antwortete munter das Töchterlein und machte einen artigen Knicks. – "Doch Ihre Soldaten sind alle weg. Mit eigenen Augen sah ich, wie sie bis auf den letzten Mann davonzogen, um meinem Vater das Geleit zu geben." — Und tröstend fügte sie hinzu: – "Vielleicht ein andermal..."

Doch dann erschien plötzlich in der Tür jener Offizier, der vorhin so stolz und breitbeinig den Herzog angekündigt hatte. In seiner Rechten hielt er eine Hellebarde mit gebrochenem Stiel, sein rechtes Auge war von tiefblauer Farbe, und seine Kleidung an mehreren Stellen zerrissen.

"Melde gehorsamst: Wir sind wieder zurück, " – sagte er.

Im Hofe sah man nun die ganzen Soldaten, die eben erst mit dem Baumeister davongezogen waren. Sie waren alle recht zerzaust; und auch ihre Waffen wirkten irgendwie kaputt.

"Ihr habt euren Auftrag mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit zur Ausführung gebracht und werdet, trotz eures unstandesgemäßen Aufzugs, eine Belohnung erhalten", – sagte der Erzherzog. Seiner Stimme konnte man anhören, daß er über irgendetwas beunruhigt war. – „Als nächstes werdet ihr nun auch diese Jungfrau hier in Ketten legen und dem Schlosse zuführen.“

"Wir haben keine Ketten mehr", antwortete zerknirscht der Offizier. – "Der Baumeister hat sie entzweigerissen, hat uns alle verprügelt und ist geflohen..."

"Wie konntet ihr ihn entkommen lassen!" – ereiferte sich der Erzherzog.

"Eine Zeitlang lief er uns noch hinterher", murmelte ein anderer, dem drei oder vier Zähne fehlten und dessen Rechte den Knauf eines verbogenen Schwertes umklammert hielt. "Doch dann verloren wir ihn aus den Augen..."

"Ich hätte Ihnen das gleich sagen können", – sagte die Frau. – "Er ist ziemlich kräftig..."

Das Töchterlein hatte derweil begonnen, den Tisch abzuräumen. – "Ich versteh nur nicht, warum er nicht sofort..."

"Vielleicht wollte er nicht, daß die Möbel kaputtgehen; oder er wollte es nicht vor unseren Augen tun", – vermutete die Mutter. - "Es ist sehr unästhetisch, wenn jemand verprügelt wird. Und dann gleich so viele auf einmal...."

"Ist es denn etwa ästhetischer, sich wie ein Hammel abführen zu lassen?" – widersprach trotzig das Töchterlein. – "Besser hätte er getan, die Angelegenheit gleich an Ort und Stelle zu bereinigen!"

"Legt sie in Ketten", – befahl der Erzherzog mit müder Stimme. – "Alle beide! Wir nehmen sie mit aufs Schloß."

"Wir haben keine Ketten mehr", – erinnerte kleinlaut der Mann mit dem abgebrochenen Hellebardenstiel. – "Der Baumeister hat sie alle kaputtgemacht."

"Dann nehmt Stricke, wenn ihr keine Ketten habt" – brüllte der Erzherzog. – "Seid doch nicht so unselbständig!"

"Nun beruhigen Sie sich!" – sagte begütigend die Frau. – "Es wird sicher alles gut werden."

"Auch Stricke haben wir keine", – antwortete der Offizier. – "Und sicher wäre es besser, ganz ohne Gefangene abzuziehen..."

"Du wagst es, meinem Befehl zu widersprechen?" – rief der Erzherzog. – "Legt ihn in Ketten!"

"Auch für ihn haben wir keine Ketten mehr", – sagte der andere Offizier. – "Und außerdem hat er vermutlich recht. Wenn der Baumeister sieht, daß wir seine Frau und seine Tochter als Gefangene mit uns führen, wird er uns möglicherweise noch einmal verprügeln.... Und selbst seine Durchlaucht könnten unter solchen Umständen sich der Gefahr einer Verprügelung aussetzen..."

Erzherzog Rherry zuckte zusammen. – „Verprügeln? Wer dürfte es wagen, mich zu verprügeln? Und du schämst dich nicht, solches überhaupt auszusprechen? Auspeitschen werd ich dich lassen! An den Beinen aufhängen!"

„Es ist sicher richtig, was er sagt", – bemerkte die Frau. – „Sollten Sie uns gefangennehmen, so wird mein Mann sich über Sie ärgern und wird Sie ohne Zweifel verprügeln. Sollten Sie jedoch ohne uns abziehen, so läßt er vielleicht Gnade vor Recht ergehen…"

„Gnade vor Recht…" – Erzherzog Rherry wischte sich den Schweiß von der Stirn. – „Was sind das für Zeiten, in denen ich zu leben verdammt bin…. Gnade vor Recht ergehen zu lassen steht nur mir alleine zu. Solche Befugnis habe ich geerbt von meinen Vorfahren."

„Nun gut", – beruhigte ihn die Frau. – „Dann wird er halt nicht Gnade vor Recht ergehen lassen, sondern Sie einfach bloß nicht verprügeln…"

„Warum sollten sie mich nicht mitnehmen?" – meinte nachdenklich das Töchterlein. – „Schon lang gelüstet es mich, das Schloß von innen sehen…. Im Stall gibt's jede Menge Stricke; damit können sie mich fesseln…."

„Willst du wirklich mit dem Erzherzog…?" – fragte zweifelnd die Mutter. „Mein Geschmack wär's nicht… Außerdem glaub ich nicht, daß dein Vater euch durchläßt."

„Auf dem Dachboden steht ein großer Wäschekorb mit Deckel; wenn sie mich da reinlegen, sieht er mich nicht", – antwortete munter das Töchterlein.

„Wahrscheinlich spürt sie den Frühling", – murmelte die Mutter.

Erzherzog Rherry hatte derweil mit knappem Befehl seine Soldaten ausgeschickt, die Stricke und den Wäschekorb zu holen. Das Töchterlein ließ sich willig fesseln und in den Korb legen. Dann befahl Erzherzog Rherry, auch den Offizier, der das mit dem Verprügeln gesagt hatte, zu fesseln; doch der wollte nicht; und da er ungewöhnlich kräftig war, ließ man davon ab, und der Erzherzog begnügte sich mit einer Verwarnung. Auch die Frau wurde verwarnt; zwecks Vermeidung unnötiger Komplikationen nahm man sie jedoch nicht mit.

Der Zug setzte sich in Bewegung und erreichte unbehelligt das Schloß. Sogleich zog der Erzherzog sich in seine Gemächer zurück, um sich von den Strapazen dieses schwierigen Tages zu erholen, und das Töchterlein ließ er derweil an den Pranger stellen; was dem Marktplatze, wo die Pranger standen, sehr zum Schmucke gereichte.

Jener Offizier, den der Erzherzog verwarnt hatte, trat zu dem angeprangerten Töchterlein hin und schlug ihr vor, sie zu befreien und mit ihr zu fliehen. Das Töchterlein aber wollte nicht befreit werden und sagte, es werde schreien, wenn er sie losmache. — Doch dann erschien plötzlich der Baumeister. Er befreite das widerstrebende Töchterlein aus dem Pranger, verprügelte den Erzherzog und setzte ihn ab. Neuer Erzherzog wurde jener Offizier, welcher bald darauf dann auch des Baumeisters Töchterlein ehelichte und sie somit zur Erzherzogin machte; und wenn sie nicht gestorben sind, so sind sie noch immer am Leben.

Die Trümmer jener Brücke aber, die Erzherzog Rherry in den Bach und kurz darauf vom Throne stürzte, kann man – so der Bach nicht kanalisiert oder begradigt wurde - auch heute noch bewundern.

© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





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Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

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Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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