Die Klamurke Notizen von unterwegs

Vom Schreiben und von Schreibenden

Geld, Leid und Leberwurst

Sonntag, den 18.September 1994 * Moskau

... während ich so im Halbschlaf lag, kam mir die irgendwo aufgeschriebene Wortzusammenstellung "Geld, Leid und Leberwurst" in den Sinn. Irgendwas ist da dran; ich verstand nur nicht, was. Ich bewegte das denn so hin und her; und inzwischen versteh ich ein klein wenig besser. Aber nur ein klein wenig.

Klar ist einmal, daß die Wortzusammenstellung in erster Linie von lautlichen Gesichtspunkten aus zustandekam; bin nicht einmal sicher, wie weit das Begriffliche hier überhaupt eine Rolle spielt. Eine gewisse Rolle spielt es natürlich; und wenn auch nur durch die Tatsache, daß die drei Begriffe gar so wenig miteinander zu tun haben. - Nach jenem Bewegen verstand ich immerhin, daß der Witz der Sache - zumindest teilweise - in der Spannung zwischen dem l und dem d bzw. t liegt: ld; zuerst nur ein Anhängsel; und dann nimmt es die Hauptposition ein und wird auseinandergeschoben; erinnert an diese Clownpfeifen oder wie man das nennt; ich meine diese auf Pfeifen aufgesetzte Papierschläuche, die sich während des Pfeifens aufrollen.

Was es mit diesem "Geld, Leid und Leberwurst" sonst noch auf sich hat - darüber müßte man meditieren.

Von klecksenden Füllern und sonstigen Schreibinstrumenten

Freitag, den 9.August 1996, Moskau

Wie ich so am Redigieren saß kam ein Anruf von X; sehr langes und sehr unsinniges Gespräch, welches mir die Laune verdarb. War zu nix mehr in der Lage. Warum, weiß ich nicht; irgendwas Schlimmes war da nicht dabei; nur Unsinn und Leere. X überfällt einen mit seinem «Wissen»; meist widersprech ich nicht; wieso sollte man; gestern aber widersprach ich; und zwar ganz energisch; bat ihn verschiedentlich ausdrücklich, mich nicht zu unterbrechen; was sogar Erfolg hatte. Aus irgendwelchen Gründen kam er, nach einem Gedankensprung, darauf zu sprechen, daß der Verfall der Kultur damit zu tun hat, daß die Leute nicht von Hand schreiben, sondern mit Computer. - Ja nu; ganz sicher haben die Computer da einen Einfluß; ich wäre der letzte, solches zu leugnen; nur ärgerte mich die primitive Einseitigkeit, mit der er diese These vertrat. Es bleibt mir nicht verborgen, daß die Computer, wo man sich nicht zu ihrem Beherrscher aufschwingt, schlimmer wüten als die Pest und ganz sicher einen wesentlichen Beitrag leisten am Kulturverfall. Nur muß man dann sehen, wo dieser Beitrag seinen Ansatzpunkt hat. Ganz sicher liegt der Haupteinsatzpunkt nicht am Schreibtisch des Schriftstellers oder Literaten. Wer schreibt, ist in diese ganze Atmosphäre des Kulturverfalls - an dem die Computer, wie gesagt, nicht unwesentlich mitwirken - mit eingespannt; doch was den unmittelbaren Einfluß des Computers auf sein eigenes Schaffen ausmacht, so hängt das weitgehend von ihm ab: wie weit er dieses Schreibinstrument beherrscht und es wirklich als Instrument benutzt; wobei es - als Instrument - in den Hintergrund tritt und das Feld schafft für schöpferisches Arbeiten. - X hat mit diesen Dingen keinerlei Erfahrung; er kann nicht mal Schreibmaschine schreiben und macht alles handschriftlich.

Ihn wiederholt bittend, mich nicht zu unterbrechen, stellte ich ihm dar, wie es bei der Fixierung des Wortes verschiedene Übergänge gibt. Der grundlegendste: Überhaupt der Übergang vom gesprochenen Wort zum geschriebenen. Und ich richtete seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß nicht wenig Zeitgenossen bereits bei dieser Hürde ins Stolpern kommen. Bekanntlich gibt es nicht wenig Menschen, die sich mündlich völlig normal, sogar prägnant ausdrücken können; die aber, sobald es darum geht, ihre Gedanken schriftlich zu formulieren, ins Stottern kommen und nichts rechtes zustandebringen. Das sei teilweise auch eine Frage der Übung. Was nun das Schreiben selber betrifft, so sei es wichtig, daß das Schreibinstrument in den Hintergrund tritt. Schon beim handschriftlichen ist jedem, der darauf angewiesen ist, zügig zu schreiben, die verhängnisvolle Rolle bekannt, die ein schlecht schreibender Kugelschreiber, ein klecksender Füller, fettiges Papier usw... bei dieser Tätigkeit spielen können: Die Technik rückt in den Vordergrund und verdrängt den Inhalt. Und hier gibt’s kaum einen wesentlichen Unterschied innerhalb des ganzen Spektrums an Schreibzeug; ob klecksender Füller, schwergängige mechanische Schreibmaschine oder unberechenbares Computerprogramm. Und andererseits: Wo das Schreibgerät reibungslos funktioniert und man es perfekt beherrscht, gibt’s da keinen Unterschied. Und was der Computer, wenn man ihn beherrscht, für Vorteile beim Schreiben bietet, kann auch nur der ausmachen, der sie nutzt. Denn immerhin ist es ein großer Unterschied, ob man bei einer Überarbeitung Seite um Seite neu schreiben muß; oder ob man nur die Stellen ändert, die wirklich geändert werden müssen. Von den Schreibfehlern schon mal ganz zu schweigen... Nee: Wer diesen Kampf nicht gekämpft hat, kann nicht mitreden (ganz egal, ob er ihn gar nicht erst angetreten hat, oder ob er kampflos unterging und Sklave des Computers wurde).

X machte also die Computer dafür verantwortlich, daß es - wie er sich ausdrückt - keine Tolstois mehr gibt. Im Weiteren machte ich ihn dann noch darauf aufmerksam, daß wir ja kaum wissen können, ob es solche Tolstois gibt oder nicht, da, selbst wo sie auftauchen sollten, kaum jemand sie drucken würde. Wies ihn auf seine Erfahrung mit den deutschen Verlagen hin, die er bei seiner Deutschlandreise machen durfte: Einstige ostdeutsche Autoren, die er früher übersetzte, sind seit der «Öffnung» weg vom Fenster; man druckt sie nicht mehr; dafür druckt man Schund; einige der Autoren, die er besuchen wollte, leben gar nicht mehr, da sie sich dieser unerquicklichen Situation inzwischen durch Selbstmord entzogen haben. (wie weit besagte Schriftsteller wirklich Niveau hatten, weiß ich nicht, da ich sie nicht gelesen habe; daß die deutschen Verlage vornehmlich Schund drucken entspricht aber voll meinem Eindruck). - Und ich wies ihn darauf hin, daß selbst ein solcher Geistesgigant wie Solschenizyn heute nur noch wenig gedruckt wird; und selbst wenn, so in lächerlichen Zehntausender-Auflagen. (ich bezeichnete Solschenizyn tatsächlich als Giganten; wobei mir völlig bewußt war, daß X ihn - ungelesen - nicht mag. Aber er widersprach nicht)

Irgendwann machte dieses mich sehr nervös machende Gespräch dann noch einen Haken in den Problembereich der Freiheit. X belehrte mich mit so ein paar Gemeinplätzen, wie zum Beispiel mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß es im Russischen einen Unterschied gibt zwischen «Wolja» und «Svoboda»; und solche Leckerbissen mehr; ich selbst wies ihn wiederholt darauf hin, daß es sich hier keineswegs um ein akademisches oder belletristischer Problem handelt, sondern um ein eminent praktisches; aber er verstand nicht so recht und gab irgendwelchen halbakademischen Senf von sich, in den ich mich nur wenig einmische, da alles zu unbestimmt war und da ich merkte, daß das Problem ihn in erster Linie vom Gesichtspunkt des Wortemachens aus interessiert und er den praktischen Gehalt, den man mit diesen Worten verbinden könnte, gar nicht spürte.

Nun gut. Irgendwann ging das Gespräch dann glücklich zu Ende. Ich hatte Lust, mich zu besaufen; doch da ich solches schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr tue, ließ ich es. Ich redigierte das angefangene Kapitel zu Ende und ging dann über zu allem möglichen anderem.

Unstimmiger Rhythmus als Anstoß zum Aufmerken

Dienstag, den 2.Februar 1993 *10.34*

Noch immer schweb ich im Nebel. Muß jetzt langsam & wachsend Disziplin aufbringen, um rauszukommen.

Ich bin schon sehr leer. Und reduziert ist meine Arbeitskraft. Verstehen tu ich wenig. Ich muß unten anfangen. Hier. Jetzt. Langsam mich aufrichten.

Zugutehalten muß ich mir, daß ich mein Arbeitszimmer schnell und den Umständen entsprechend recht wohnlich eingerichtet habe. Das ist schon mal gut. Das weitere jetzt so nach und nach. Wichtig ist jetzt, sich den Aufgaben, die sich bieten, konsequent und diszipliniert und unter Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Kräfte und Möglichkeiten (3 oder 4 Silben) zu stellen. Bringt mich in Rage, wenn der Rhythmus nicht stimmt; ein passendes drei-oder viersilbiges Wort fiel mir aber beim besten Willen nicht ein. Aber isses nicht so daß, wenn Form und Inhalt nicht zusammenpassen und in der Form plötzlich was auseinanderklafft, eh irgendwas nicht stimmt? Daß man sich vielleicht gar in reinem Geschwafel ergangen hat? Hä?

Gut. Arbeiten wir uns raus aus dem Geschwafel.

Schicksal

7. Juli 1990

Ein Satz (...) über den ich (...) stolpere: "Aristoteles bezeichnet durch seine Idee der Läuterung (Katharsis) die Einweihung in den Schicksalsweg als die Aufgabe des Dichters."

Sic. Wenn mein weiteres Schreiben einen Sinn haben soll, muß es da hinaus laufen. Bloß bin ich von dem weiter entfernt denn je; obwohl ich in den letzten Jahren insgesamt weitergekommen bin. Trotzdem gab es Zeiten, da war ich näher dran. Öd ist alles und uninteressant. Erinnern kann ich mich - so lang ist das noch gar nicht her - an die Faszination, welches das Schicksal jener Geiselnehmer mitsamt erschossener Geisel auf mich ausübte; und: der starke Impuls, dem nachzugehen. All dies ist weg. Und auch mein eigenes Schicksal, mein eigener Schicksalsweg läßt mich - wenn man von immer wieder auftauchenden lichten Momenten absieht - kalt. Irgendwas muß geschehen. Eine eingreifende Wende. Mich innerlich gegen diesen Wust anzustemmen reicht allein nicht.

***

15. September 1990

Im Übrigen ist mir (...) durch den Sinn gezogen, welche Biographien ich persönlich - so ich es tatsächlich noch zum Dichter bringen sollte - bearbeiten würde. Dabei wurde mir klar: Weder die großen Heiligen und Geistesheroen, noch die großen Pharisäer und Schwätzer (die natürlich am allerwenigsten; doch haben die eh genügend Biographen) oder die großen Nur-Scheusale wie Marquis de Sade, Casanova und sonstiges Sumpfgetier. Interessieren tun mich die großen Scheiternden und Abgrundwandler (von denen man, alsda nur der Erfolg zählt, halt nix hört). Interessant zum Beispiel einige Beteiligte des Gladbecker Geiseldramas.

Ja nu. Zur Not kann ich auch welche erfinden. So es jemand gibt, der sich an solchem interessiert.

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Die beiden obigen Notizen findet man in dem Sammelband
"Einblicke in Abwege"
(Seminar-Verlag Basel)

Einblicke in Abwege

Von der Ebene des Mittelmäßigen

8. Januar 1991

Auf der Ebene des Mittelmäßigen beweg ich mich sprachlich weitaus besser als die meisten der mir bislang zu Gesicht gekommenen zeitgenössischen "Schriftsteller". Doch das Mittelmäßige iss gemeingefährlich. Wir brauchen Kräfte, die aus dem Moraste rausführen und nicht solche, die den Morast so weit zu läutern verstehen, daß es sich noch halbwegs darin aushalten läßt[1].

Sinn und Unsinn des Schreibens

3.Dezember 1993 *22.03* Moskau

Ich schrieb sehr lange und sehr viel am "Hoffräulein auf dem Baum" (die inzwischen allerdings zur Prinzessin wurde) und kam, erstmals wieder seit langem, in einen richtigen Schreibstrom rein, in dem ich alles um mich herum vergaß. Irgendwelches Gewimmel an der Bewußtseinsschwelle; irgendwann ein deutlicher Eindruck, als habe ich diesen Moment, wie ich da sitze und an diesem Text schreibe, irgendwann mal geträumt; und Zweifel daran, ob das denn wohl richtig ist, an solchem Stuß zu arbeiten; ob das nicht gar ein Abkommen vom Wege ist. - Ich weiß ja wirklich nicht, ob das Verfassen solcher Texte zu irgendetwas nütze ist. Immerhin war hier, wie g'sagt, im Hintergrund irgendwas los; auch entwickelte ich wieder ein gewisses Gespür für die Situation: Wann eine Linie sich totläuft; wann ein Einschub fällig ist und welcher Art der sein muß.

Wichtig ist auch, daß sich aus solchem freien Fabulieren eine gewisse Auflockerung ergeben kann, die sich dann für vernünftigeres nutzen läßt. Im Weiteren aber fällt mir ein, wie etwa der "vom Pferde geschubste König" und auch die Klapperschlange tatsächlich irgendwie 'ne Art Bereicherung darstellen; vor allem ist das mir aufgegangen, während ich diese Texte im Deutschunterricht benutzte. Der "König" hat noch einige kleinere stilistische Schwachstellen; auch die sind mir während des Deutschunterrichts aufgefallen; ansonsten ist das fast schon 'n Kunstwerk. Vielleicht krieg ich die Prinzessin auch noch in eine solche Form, in der sie diesem oder jenem Auflockerung, Belebung, Anregung sein kann...[2]

Mehrsprachigkeit

Samstag, den 3.August 96, Moskau

Zunehmend ertappe ich mich dabei, wie ich Ansätze zu belletristischen Texten - ja nu; was man so zwischendurch im Kopf sich zurechtlegt - in russischer Sprache bereite. Schreiben tu ich das aber alles in Deutsch. Ob ich voll auf die russische Sprache umsteigen soll? Weiß selbst nicht, was richtig ist. Weiß nicht einmal, ob es notwendig und richtig ist, so'n Zeug überhaupt zu schreiben; ganz egal in welcher Sprache. Aber manchmal hat es - aus unerfindlichen Gründen - was Erfrischendes.

***

Mittwoch, den 1.Januar 97 * Moskau

Volodja meint, ich müsse meine Schriftstellerei auf die russische Sprache ausdehnen; doch dürfe ich auf keinen Fall dabei das Deutsche vernachlässigen; sogar bemerkte er, er könne dann keine Achtung mehr vor mir haben, wenn ich aufhören würde, Deutsch zu schreiben.

Großes oder kleines Publikum

Sonntag, 1. Februar 2015, Montenegro

X gab mir Ratschläge, was ich alles tun muß, um von den Suchmaschinen bemerkt zu werden und ein großes Publikum zu schaffen.

Aber sie versteht nicht oder will nicht verstehen, daß ein großes Publikum mich nicht interessiert und daß ich auch kein großes Publikum bekommen kann, da ich ungeniert auf selbiges keine Rücksicht nehme; und wenn ich Rücksicht nehmen würde, so wäre ich auch eines kleinen Publikums nicht wert.

Zwischenfliege

Vermischtes Verlinktes

Schreiben und Schreibende

[1] Nachtrag Juli 2012: Inzwischen habe ich verstanden, daß der Ausweg aus der Mittelmäßigkeit nicht in einen welterretterischen Schmalztopf einmünden darf; ganz egal, wie edel und gescheit das auf den ersten Blick wirken mag. – Der weiter oben angeführte Aristoteles zitierende Autor (Herbert Witzenmann; für sich genommen eigentlich in Ordnung) ist (bzw. war), wie ich weiß, Verehrer von Albert Steffen; ich schließe nicht aus, daß er eben diesen im Auge hatte (was aber seiner Aussage nicht den Sinn nimmt). Albert Steffen ist nun, so weit ich sehen kann, reinster – zudem streng ideologisch motivierter – Schmalztopf. Etwas raffiniertere, intelligentere Mittelmäßigkeit; weiter nichts. Wo die „Einweihung in den Schicksalsweg“ so direkt nicht gelingt, besteht ein anderer Ausweg im Auflockern der Festgefahrenheiten; was allemal ehrlicher ist. Hierzu ein Gedicht von Maximilian Woloschin (Russisch mit kommentierter deutscher Übersetzung; Übersetzung und Kommentare von mir; alles nur anfänglich; sollte ich wirkliches Interesse entdecken, so könnte ich mich eventuell auch zu einer gründlicher kommentierten literarischen Übersetzung aufraffen; vorerst mal eine meiner Baustellen)
[2] Der Vollständigkeit halber Links zu den erwähnten Sachen: Die Prinzessin auf dem Baume erlangte ihre Vollendung unter dem Titel „Urwaldidylle“; weiter dann: „Wie ich den König vom Pferd schubste“ und „Die Klapperschlange“.
Raymond Zoller