Tagebucheintrag vom März 1995
zu einer in Russisch geführten Arbeitsgruppe.
In jener von mir geleiteten Arbeitsgruppe wurde das Steiner’sche Werk „Die Philosophie der Freiheit“ durchgearbeitet. In der geschilderten Sitzung ging es um die moralische Intuition; und als dem äußeren Leben entlehnte Illustration zu solcher „moralischen Intuition“ hatte ich das Tun eines Menschen namens Philipp Mironov ausgewählt.
Auf die Schilderung besagter Taten war ich kurz vorher in Solschenizyns Werk „Oktober 16“ gestoßen.
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Nachfolgend, auf die Schnelle ins Deutsche übersetzt, der Bericht über Mironov.
Geschildert wird die Unterhaltung des kosakischen Literaten Kowynjow[1] mit einem Armeeobersten während einer Zugfahrt. In der hier wiedergegebenen Stelle spricht er über seinen Freund Philipp Mironov. Auch bei Philipp Mironov handelt es sich meines Wissens um eine reale Person.
[…]
„Philipp Mironov riet den Kosaken aus der Reserve, sich nicht für den Polizeidienst mobilisieren zu lassen! Und sie ließen sich nicht mobilisieren! […] Deswegen wurde er zu 8 Monaten Hausarrest verurteilt. Der damalige Oberbefehlshaber des Kosakenheers […] begnadigte ihn und schickte ihn zurück in den normalen Dienst. – Wenn das Bewusstsein in einem erwachte – erklären Sie doch mal – wie soll man da dienen? Dem Volk oder dem Zaren; dem Gewissen oder dem Eid? Denn da muß man unbedingt eine Wahl treffen“
„Wenn man dem Vaterland dient, dient man gleichzeitig auch dem Volk“ – erwiderte der Oberst.
Mag sein… Oder auch nicht… - „Ein Kosake aus der von Mironov befehligten Hundertschaft erhielt einen Brief: Seine Frau ist gestorben, seine Mutter ist krank, seine beiden Kinder unbeaufsichtigt. Mironov versprach ihm einen Monat Urlaub und gab ihm frei, damit er in der Stadt ein Telegramm nach Hause schicken kann. Der Kosake war völlig verstört und vernebelt; in der Stadt traf er den Regimentskommandeur und salutierte nicht. Man befahl, ihn deswegen zu bestrafen. Philipp verurteilte den Kosaken zu zwei Stunden Arrest [oder so ähnlich; боевая выкладка] und er selbst kümmerte sich derweil darum, dass er Urlaub bekommt. – Die Antwort des Regimentskommandeurs: die von Mironov verhängte Strafe sei nicht ausreichend; und Urlaub bekommt er nicht. Nun, solche uniformierte Unmenschen gibt es doch; oder?“
„Leider gibt es solche,“ bestätigte der Oberst ungerührt. – „Doch wenn man das Salutieren beiseitelässt, geht die Armee zugrunde.“
[…]
„Aber er hat ihn doch bestraft! Doch nein: für das schwere Verbrechen des Nichtsalutierens – 25 Rutenhiebe in Anwesenheit der Hundertschaft. Nun, was sind wir Kosaken für Henker: uns selbst verprügelt man wie kleine Kinder… Mironov ging hin und bat, die Strafe abzusetzen. Und als Resultat? Ihm in Anwesenheit des Regiments die Rutenhiebe verabreichen! Nun, sagen Sie – wie kann man mit denen in der Armee dienen?“
[…]
Und als dann das Regiment angetreten war, um der Strafe beizuwohnen, kommandierte Mironov: „Kosake Soundso, zehn Schritte vor! Als dein unmittelbarer Vorgesetzter verbiete ich dir, dich auf diese Schandbank zu legen! Kehrtmachen! Zurück an denen Platz in der Formation!“
[…]
„Wieder ein Fehltritt. Ein Unverbesserlicher also! Man rief ihn nach Nowotcherkassk. Vor dem General Samsonov nahm ein Adjutant dem Unbeugsamen den Offiziers-Uniformschmuck ab, und er wurde aus der Don-Armee entlassen. Einfach so… Ein gefeierter Held; einfach entlassen. Nun sagen Sie, wie sollen wir Kosaken nachdenken? Wie haben es schwerer als all die andern. Und alle verfluchen uns…“
[…]
„Eben das ist quälend. Was für eine Verspottung… Eben die Kosaken. Die unerbittlichsten Gegner der Knechtschaft. Vor der Knechtschaft flüchteten sie bis an den Rand der Welt auf der Suche nach Freiheit. Und ihre Nachkommen kehrten zurück nach Russland – um die Menschen der Freiheit zu berauben? Jenem Menschenschlag, dem sie entstammen? Galoppieren, brüllen, peitschen – hinein in die Masse ihres Volkes. Seelendegeneration. Und Mitleid. Denn sie sind ja keine Übeltäter; sie wissen bloß nicht, was sie tun.“
[…]
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Die "Philosophie der Freiheit" - Runde haben wir kurzerhand vom Rodnik nach Strogino verlegt und gleichzeitig noch um Deutschunterricht erweitert (für den, der will).
Letzten Samstag war dortselbst erste Sitzung. Von der Stammbesetzung fehlten einige; als Gast Sascha, der Bruder von Sveta (der die ganze Woche über hier wohnte). Sascha, obwohl völlig unvorbereitet, kam recht gut rein; die Teilnahme war für ihn der Anstoß, sich weiter damit zu beschäftigen. Teilnahme an der Gruppe ist leider nicht möglich, da er in Wolgograd lebt.
Insgesamt war es eine "Kosakensitzung"; aus sehr vielen Gründen. Zur Einstimmung ließ ich Sveta die Stelle über Mironov in Solschenizyn's "Oktober 16" lesen; bei den nachfolgenden Erläuterungen zum Text (IX. Kapitel) knüpfte ich dann mehrfach an dieses Beispiel an.
Verschiedene Fragen und Anmerkungen von Sveta (die aus einer alteingesessenen Kosakenfamilie stammt) führten zu einer ausführlichen Berücksichtigung der typischen kosakischen Psychologie. In der Textstelle von Solschenizyn spielt natürlich die "blutsmäßige", also gegebene kosakische «удаль», "udal" (einen deutschen Begriff, der auch nur in die Nähe der "udal" kommen würde, gibt es meines Wissens nicht; auch "Verwegenheit" und "Kühnheit" sind noch meilenweit davon entfernt) eine entscheidende Rolle; doch bereitet sie in diesem Fall nur den Boden für eine moralische Intuition.
Im Weiteren ergab sich dann die Frage: Dass es also blutsmäßige Bedingungen geben kann, welche das Entwickeln moralischer Intuition erleichtern. In diesem Zusammenhang nahmen wir denn die kosakische "udal" näher unter die Lupe. Dass selbige, wo sie unkontrolliert sich selbst überlassen bleibt, zu den abstrusesten Verwirrungen führen kann, durften Sveta und Sascha in der Umgebung, wo sie aufwuchsen, zur Genüge beobachten. Wo sie hingegen mit echter Kultur in Berührung kommt, da bereitet sie - durch ihre kettensprengende Unbekümmertheit - den Boden für echte Individualität: für moralische Intuition.
Und ich verstieg mich zu der Behauptung, dass die Kosaken somit über wesentlich günstigere Voraussetzungen verfügen, die derzeit anstehende Kulturaufgabe zu verwirklichen als die Deutschen, die außer in gewissen Kreisen gepflogenem großspurigem Gerede in dieser Hinsicht kaum was zu bieten haben; und dass diese Aufgabe, da die Deutschen versagten, nunmehr wohl oder übel an die Kosaken übergeht. Selbige Behauptung machte mir ob ihres provokativen Charakters nicht wenig Spaß... Sollten die Anthroposophen davon erfahren, so hätten sie wieder einen Grund, in ihrem Blatt über mich zu schreiben...
Auf der Heimfahrt, in der Straßenbahn, meinte Sascha, die ganze Sitzung hätte auf ihn gewirkt wie eine innerkosakische Auseinandersetzung über kosakisches Selbstverständnis. Dann schaute er sich das Konterfei von Steiner auf der "Philosophie der Freiheit" aufmerksam an und meinte, der hätte ausgeprägte kosakische Züge; und er stellte dar, wie der Kosake Rudolf Steiner in geistiger "udal" sein anstehendes Buch schreibt und sich anschließend in den Sattel schwingt, um sich auszutoben und auch, um Geld für die Herausgabe zusammenzurauben...
Zum Glück war weit und breit kein Anthroposoph...
1) Unübersehbar geht es hier um den kosakischen Literaten Fjodor Krjukov. Warum Solschenizyn ihn unter anderem Namen präsentiert, weiß ich nicht; vielleicht weil er in dem Roman noch einiges hinzugedichtet hat. In der Klamurke hab ich mich kurz zu Kowynjov oder Krjukov geäußert; findet man bei Bedarf unter http://www.klamurke.com/Notizen/Stiller_Don.htm