Je größer in einem Menschen die Fähigkeit ist, Aufmerksamkeit auf gewisse Vorgänge des Lebens zu richten, welche nicht von vornherein dem persönlichen Urteil vertraut sind, desto größer ist für ihn die Möglichkeit, sich Unterlagen zu schaffen für eine Entwickelung in geistige Welten hinauf. Ein Beispiel mag dies anschaulich machen. Ein Mensch komme in eine Lebenslage, wo er eine gewisse Handlung tun oder unterlassen kann. Sein Urteil sage ihm: Tue dies. Aber es sei doch ein gewisses unerklärliches Etwas in seinen Empfindungen, das ihn von der Tat abhält. Es kann nun so sein, dass der Mensch auf dieses unerklärliche Etwas keine Aufmerksamkeit verwendet, sondern einfach die Handlung so vollbringt, wie es seiner Urteilsfähigkeit angemessen ist. Es kann aber auch so sein, dass der Mensch dem Drange jenes unerklärlichen Etwas nachgibt und die Handlung unterlasst. Verfolgt er dann die Sache weiter, so kann sich herausstellen, dass Unheil gefolgt wäre, wenn er seinem Urteil gefolgt wäre; dass jedoch Segen entstanden ist durch das Unterlassen. Solch eine Erfahrung kann das Denken des Menschen in eine ganz bestimmte Richtung bringen. Er kann sich sagen: In mir lebt etwas, was mich richtiger leitet als der Grad von Urteilsfähigkeit, welchen ich in der Gegenwart habe. Ich muß mir den Sinn offen halten für dieses «Etwas in mir», zu dem ich mit meiner Urteilsfähigkeit noch gar nicht herangereift bin. Es wirkt nun in hohem Grade günstig auf die Seele, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf solche Fälle im Leben richtet. Es zeigt sich ihr dann wie in einer gesunden Ahnung, dass im Menschen mehr ist, als was er jeweilig mit seiner Urteilskraft übersehen kann. Solche Aufmerksamkeit arbeitet auf eine Erweiterung des Seelenlebens hin.
Aber auch hier können sich wieder Einseitigkeiten ergeben, welche bedenklich sind. Wer sich gewöhnen wollte, stets deshalb sein Urteil auszuschalten, weil ihn «Ahnungen» zu dem oder jenem treiben, der könnte ein Spielball von allen möglichen unbestimmten Trieben werden. Und von einer solchen Gewohnheit zur Urteilslosigkeit und zum Aberglauben ist es nicht weit. — Verhängnisvoll für den Geistesschüler ist eine jegliche Art von Aberglauben. Man erwirbt sich nur dadurch die Möglichkeit, in einer wahrhaften Art in die Gebiete des Geisteslebens einzudringen, dass man sich sorgfältig hütet vor Aberglauben, Phantastik und Träumerei. Nicht derjenige kommt in einer richtigen Weise in die geistige Welt hinein, welcher froh ist, wenn er irgendwo einen Vorgang erleben kann, der «von dem menschlichen Vorstellen nicht begriffen werden kann». Die Vorliebe für das «Unerklärliche» macht gewiss niemanden zum Geistesschüler. Ganz abgewöhnen muß sich dieser das Vorurteil, dass ein «Mystiker der sei, welcher in der Welt ein Unerklärliches, Unerforschliches» überall da voraussetzt, wo es ihm angemessen erscheint. Das rechte Gefühl für den Geistesschüler ist, überall verborgene Kräfte und Wesenheiten anzuerkennen; aber auch vorauszusetzen, dass das Unerforschte erforscht werden kann, wenn die Kräfte dazu vorhanden sind.
(Siehe auch "Humorbegabte Dämonen"