Die Klamurke Belletristik

Der Frosch

Vor vielen Jahren, an einem sonnigen Maientag, wurde von dem Wasserfall, der im Tal der Füchse durch sein lautes Toben die dort ansässigen Füchse verscheucht hatte, ein toter Frosch nach unten gespült und von den Wellen, die sich an seinem Fuße tummelten, an Land getragen.

Hier lag er drei Tage und drei Nächte; bis er von Silvia, einer Angestellten des in der Nähe gelegenen Krakheanum, gefunden wurde.

Silvia, die sich am Wasserfall die Füße hatte waschen wollen, sah den Frosch und dachte, daß er so aber nicht liegenbleiben kann; doch hätte sie nicht zu sagen gewußt, durch welche Maßnahmen sich seine Lage verbessern ließe. — Nachdenklich ging sie den Weg zurück, den sie gekommen; und da sie trotz allen Nachdenkens keine Antwort auf ihre Frage finden konnte, suchte sie Rat beim Vorstand des Krakheanum. — Vom Krakheanumvorstand ist bekannt, daß er zu jedem Problem innert kürzester Frist die Lösung findet; ja, daß er oftmals sogar die Lösung bereits weiß, noch bevor das Problem an ihn herangetragen wurde. — Bei diesem Vorstand nun, der aus sechs sehr weisen und sehr würdigen alten Herren bestand, klopfte Silvia an und unterbreitete ihm das Problem mit dem Frosch.

Aufmerksam hörte der Vorstand sich ihre Darlegungen an und beschied nach kurzer Beratung, daß man es hier mit einer außerordentlich schwierigen Frage zu tun hat, und sie solle nach Ablauf zweier Stunden wiederkommen, auf daß man ihr den gefaßten Entschluß mitteile. — Solcherart der Sorge um den toten Frosch enthoben, suchte sie sogleich erneut den Wasserfall auf. Sie zog ihre Schuhe aus und wusch sich die Füße; und da die Sonne drückte und das Wasser angenehm kühl war, ließ sie bald auch ihr Kleid folgen und alles, was sie sonst noch an hatte, und stieg ins Wasser, um sich schwimmend zu erfrischen. — Unterdessen hatte der Vorstand die erste Vorbesprechung über die weitere Vorgehensweise in Sachen Frosch zum Abschluß gebracht; und um sich für die nähere Erörterung eine solide Urteilsgrundlage zu verschaffen beschied man, mit Hilfe eines Fernglases die betreffende Örtlichkeit einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Sogleich rief man einen Bediensteten und trug ihm auf, das erforderliche Instrument herbeizuschaffen.

Der Bedienstete tat, wie ihm geheißen; doch als er mit dem Fernglas in der Hand wieder im Sitzungssaale erschien, da hatte sich der Vorstand bereits neuen und nicht minder wichtigen Problemen zugewandt; und man befahl ihm, nunmehr selbst mit Hilfe des Fernglases die Ufer des Wasserfalls nach der Froschleiche abzusuchen und, so er sie gefunden, sie schriftlich genau zu lokalisieren und zu beschreiben. — Der Bedienstete machte sich an die Arbeit. Doch kaum hatte er das Glas an die Augen gesetzt, als Silvia, die sich in dem kühlen Nasse zur Genüge erfrischt hatte, bar jeder Hülle dem Wasser entstieg und sich ins Gras legte neben die Sachen, die sie vorhin abgelegt; und da sie jung war und gut gebaut, schaute der Bedienstete sehr aufmerksam hin und vergaß darüber den Frosch.

In ernster und würdiger Beratung bewegte unterdessen der Vorstand die neuen Probleme. Den ältesten und weisesten unter den Vorstandsmitgliedern aber konnten dieses neuen Probleme trotz ihrer Gewichtigkeit nicht von jenen weitreichenden Fragen ablenken, die sich mit dem geheimnisvollen Erscheinen der Froschleiche vor ihnen aufgetan hatten; und unter den mißbilligenden Blicken seiner Kollegen erhob er sich, trat ans Fenster und fragte den Bediensteten, ob er den Frosch gefunden habe.

Der Bedienstete aber, der soeben überlegte, ob er nicht bei nächster Gelegenheit Silvia zum Tee einladen sollte, zuckte ob dieser überraschenden Frage erschrocken zusammen und gestand zerknirscht, daß er noch nicht darnach gesucht hat, alsda eine neu aufgetauchte Erscheinung ihn von seinem Vorhaben abgelenkt habe. — Unwillig nahm der Weise ihm das Glas aus der Hand und hielt es sich selbst an die Augen; doch kaum, daß er es scharf eingestellt hatte, wie sich auch schon seine Haltung straffte; und mit anerkennender Stimme ließ er verlauten, daß man auch dieses neu aufgetauchte Phänomen nicht ohne Beachtung lassen dürfe. Und sogleich schickte er den Bediensteten los, auf daß dieser noch fünf weitere Ferngläser hole für seine Kollegen.

„Was ist los?" – fragten die andern Weisen beunruhigt. – „Ein neues und außerordentlich interessantes Phänomen ist aufgetaucht", – antwortete der Weise am Fenster, ohne das Glas von den Augen zu nehmen. — Unterdessen erschien der Bedienstete wieder und legte vor jeden ein Fernglas auf den Tisch. Die Weisen ergriffen sie und stapften würdevoll zu den drei Fenstern auf der Seite des Wasserfalls; und wie der Bedienstete kurz darauf über den Hof ging, konnte er sehen, wie aus jedem dieser drei Fenster zwei Ferngläser herausschauten. Lange, sehr lange stand der Vorstand in den Fenstern und blickte selbstvergessen auf jene Stelle neben dem Wasserfall. – „Ein interessanter, ein belebender Anblick fürwahr", – sagte schließlich der Weise, der zur Linken am rechten Fenster stand, und setzte das Fernglas ab. – „Aber besser noch wär's, wenn sie sich bewegte." — „Tanzen müßte sie", pflichtete der rechte vom mittleren Fenster bei und nahm ebenfalls das Glas von den Augen. – „In der Stadt durfte ich eine Stätte besuchen, wo Frauen auf der Bühne tanzen und sich dabei ausziehen. Das war noch viel belebender." – „Sie steht auf", sagte sein Nachbar, der Linke vom mittleren Fenster. Wieder schauten alle hin. Silvia zog sich langsam an, kämmte ihr Haar und ging leichtfüßig davon.

„Die Frauen, die sich in der Stadt auszogen, hatten auch interessantere Sachen an", – fuhr der Rechte vom mittleren Fenster fort. – „Aber die hier ist bemerkenswert gut gebaut", – hielt ihm der Weise, der ganz links stand, entgegen. „Was hat es für eine Bedeutung, welche Sachen sie anhat?"– „Nicht, welche Sachen sie anhat, sondern welche Sachen sie auszieht", – belehrte ihn sein Kollege.

Der Vorstand schloß die Fenster und nahm wieder Platz. – „Eine gut gebaute nackte Frau ist ein angenehmer Anblick", – sagte der Weise, der vorhin zur Rechten am mittleren Fenster gestanden, mit nachdenklichem Gesicht. – „Aber noch interessanter ist es, wenn eine gut gebaute Frau sich auszieht; und am belebendsten ist der Anblick, wenn sie langsam interessante Sachen auszieht."

Die Weisen schwiegen. „Was meinst du mit interessanten Sachen?" – fragte schließlich der, welcher vorhin zur Rechten am linken Fenster gestanden hatte. – Der Rechte vom mittleren Fenster stützte das Kinn auf die gefalteten Hände: – „Was das Interessante an den interessanten Sachen ausmacht, wüßte ich nicht zu sagen. Ich bin sicher, daß meine Behauptung stimmt; aber warum weiß ich nicht."

„Gleich dir neig ich zu der Ansicht, daß der Begriff ‚Interessante Sachen‘ in Bezug auf den weiblichen Körper realiter existiert; doch genau so wenig wie du seh ich mich in der Lage, ihn zu charakterisieren", meldete sich der Weise zu Wort, der vorhin ganz rechts gestanden. „Man sollte, wie mir scheint, dieses Problem näher in Augenschein nehmen." — „Hier kündigen sich in der Tat die Umrisse eines Gebietes an, welches erforscht sein will", bekräftigte derjenige, der vorhin zur Linken am rechten Fenster gestanden. „Immerhin sind wir ein Forschungsinstitut!" — Nunmehr begann eine Beratung; und alsbald schon kam man zu dem einmütigen Entschlusse, daß man die Fragen, die im Zusammenhang mit dem toten Frosch am Horizonte aufgetaucht waren, zum Forschungsobjekt machen werde. Und als zum verabredeten Zeitpunkt Silvia erschien, um sich nach dem Schicksal des Frosches zu erkundigen, da trug man ihr auf, selbigen in luftdichte Hüllen zu verpacken und in die Tiefkühltruhe zu legen; sich selber aber, jeden Tag um die gleiche Zeit und am gleichen Orte, wo sie ihn gefunden, jeglicher Hüllen zu entledigen; und zwar müsse dies langsam geschehen und mit dem Gesichte zum Krakheanum. — Silvia sah sich außerstande, all diese vielen Dinge in einen Zusammenhang zu bringen; doch da der Vorstand sie wiederholt und überzeugend auf ihre Unerfahrenheit und geistige Unreife hingewiesen hatte, fand sie dies nicht weiter erstaunlich. Wie ihr geheißen, wickelte sie den Frosch in luftdichte Hüllen und legte ihn in die Tiefkühltruhe; und wie anderntags die Zeit heranrückte, wo sie ihn gefunden, da ging sie hinüber zum Wasserfall und entledigte sich langsam und mit dem Gesichte zum Krakheanum ihrer Kleider. Nun waren die Voraussetzungen natürlich andere als gestern. Gestern hatte sie sich noch entkleidet, um ihren Körper der Luft, der Sonne und dem Wasser auszusetzen und sich solcherart zu erfrischen. Bei der heutigen Entkleidung hingegen schien deren Resultat nicht mehr von Belang; doch gewann dafür plötzlich der Prozeß an Bedeutung. Zu diesem Prozesse hatte der Vorstand bestimmte und unverrückbare Vorgaben gemacht; und wie sie nun unter gewissenhafter Beachtung jener Vorgaben ihrer immer noch unverständlichen Aufgabe nachging – da offenbarten sich ihr ganz unerwartet in diesem Prozesse verborgene Geheimnisse und Reize, von denen sie vorher nie gewußt.

Der Vorstand war von ihrem Auftritte hellauf begeistert; und der Rechte am mittleren Fenster, der sich auskannte, stellte fest, daß sie außerordentlich begabt ist. Doch fügte er hinzu, daß man ihm Rahmen des neu initiierten Forschungsprojektes es nicht versäumen dürfe, gleichfalls die Darbietung der Frauen in der Stadt einer näheren Betrachtung zu unterziehen, aufdaß man den Gesichtskreis weite und nicht der Einseitigkeit verfalle. — Woraufhin der ganze Vorstand beschloß, noch am gleichen Abend eine Forschungsreise in die Stadt zu unternehmen und das Erfahrungsfeld zu erweitern. Am Abend aber, während der Vorstand in der Stadt sich seinen Studien widmete, lud der Bedienstete Silvia zum Tee ein; und neben vielem anderem erzählte er ihr auch von den Ferngläsern. — Nunmehr waren ihr die Zusammenhänge verständlich; und endgültig befand sie, daß die Sache nicht ohne Reiz ist und daß man den Rätseln, die im Entkleidungsprozesse verborgen sind, nachforschen sollte.

Anderntags fuhr sie stracks in die Stadt; und wie sie zur verabredeten Zeit am Wasserfall ihr Kleid auszog, da staunte der Vorstand gar sehr, als darunter die gleichen interessanten Sachen zum Vorschein kamen, wie sie sie nachts zuvor bei ihrer Forschungsreise gesehen; und wie sie sich auch dieser Sachen entledigt hatte, in geschickten Bewegungen alles einsammelte und hinter einem Busche, der sie den Blicken des Vorstands entzog, sich wieder ankleidete – da kamen die Weisen einmütig zu dem Schlusse, daß sie alles, was man nachts zuvor gesehen, in den Schatten stellt. Besser wurde sie und immer besser; und neues Publikum strömte heran, das schon nicht mehr mit Ferngläsern, sondern aus der Nähe ihre Künste bewunderte. Und als es gen Herbst zuging und die kalten Winde kamen, die den Auftritten am Wasserfall ein Ende bereiteten - da gab Silvia ihre Arbeit am Krakheanum auf und zog in die Stadt, in eines jener Etablissements, auf welche seinerzeit der rechte Weise vom mittleren Fenster die Aufmerksamkeit seiner Kollegen gelenkt hatte; und hier durfte sie Nacht für Nacht auf wohlbeheizter Bühne sich entkleiden und wurde alsbald schon ein großer Star; und oftmals konnte man unter dem begeisterten Publikum den Vorstand und sonstige bedeutende Persönlichkeiten vom Krakheanum erblicken, die ihrer einstigen Angestellten unbeirrt die Treue hielten.

Als aber im Rahmen der neu eröffneten Sektion zur Erforschung des Entkleidungsprozesses am Krakheanum gleichfalls ein solches Etablissement eröffnet wurde, da berief man dorthin Silvia als wissenschaftliche Mitarbeiterin: zurück an jenen Ort, wo sie vor noch nicht so langer Zeit als kleine Angestellte ihre große Karriere begonnen hatte.

Der Frosch aber blieb in der Tiefkühltruhe; und so ihn niemand herausnimmt, wird er dort liegen bis ans Ende der Zeiten.

© Raymond Zoller

Zur russischen Fassung






Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein,
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Der Verfasser schreibt in Deutsch und in Russisch, und für die in diesem Band veröffentlichten Texte gibt es jeweils auch eine russische Version. Die russischen Versionen findet man in dem entsprechenden russischsprachigen Band mit dem Titel «Как я сшиб короля с коня».

Außer für Russischsprachige kann das auch für deutschsprachige fortgeschrittene Russischlernende interessant sein. Letztere können beim Seminar-Verlag ein deutsch-russisches Bücherpaar bestellen.

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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