[Nachfolgende Notizen wurden, zusammen mit einigen weiteren zur Sache beitragenden Materialien, in einer PDF-Datei zusammengefaßt, die man bei Bedarf hier herunterladen kann. Sollten sich in dieser Thematik nennenswerte Entwicklungen ergeben, so würde die Datei entsprechend aktualisiert].

Notizen zu einem erweiterten Begriff der Behinderung

 

Ein irgendwann dahinskizzierter und wieder liegengelassener Ansatz, die allem übrigen Gekrisel zugrundeliegende geistig-seelisch-soziale Krisensituation vom Behinderungsgesichtspunkt aus aufzurollen.

Eine solche Erweiterung nimmt dem althergebrachten Begriff der „Behinderung“ seinen Sonderstatus und gliedert ihn fließend ein in das Panorama der verschiedensten sonstigen Behinderungsfaktoren: ein notwendiger Gesinnungswechsel, der nicht nur wichtig ist für die im herkömmlichen Sinne „Behinderten“, sondern vielleicht noch wichtiger für die im herkömmlichen Sinne „nichtbehinderten“ Behinderten.

Ansonsten führt das Eingehen auf besagte Erweiterung uns in die allerverschiedensten allerinteressantesten Bereiche hinein; und sogar kann es zu einer Bewußtmachung des Freiheitsproblems führen.

Und erinnert sei an das Motto der Klamurke:

Krüppel aller Länder – vereinigt euch!

 

Weitere Vorbemerkung:

Diese weitab von den bekannten ausgelatschten Pfaden sich dahinbewegenden Gedankengänge werden in Form verstreuter Notizen präsentiert.

Es scheint, als müsse man das eigentlich in Form eines zusammenhängenden Essays bringen.

Aber mir scheint, daß das nur so scheint. Nämlich glaube ich, daß jemand, der sich durch einen zusammenhängenden Essay zu besagten Gedankengängen anregen lassen kann, zu solchem genausogut durch vorliegende Notizensammlung in der Lage sein wird; während, umgekehrt jemandem, der mit dieser Notizensammlung nix anzufangen weiß, auch ein zusammenhängender Essay aus seinen ausgelatschten Pfaden nicht heraushelfen wird.

 

Zur Sache kommend:

Ein Blog für laufende Erörterungen zu einem erweiterten Begriff der Behinderung hatte ich schon vor längerem eröffnen wollen; zunächst im Umfeld der von mir vor ein paar Jahren begründeten und betreuten Netzpräsenz der Allianz Georgischer Behinderter; doch schien mir das dann nicht ganz das Richtige, und ich ließ es sein. - Bei erwähnter Netzpräsenz ging es um Menschen, die im herkömmlichen, engeren Sinne „behindert“ sind, das heißt, die durch körperliche Defekte gewisse Probleme haben, aktiv zu werden und sich richtig ins Leben einzubringen.

Doch nicht nur körperliche Defekte führen zu aktives Sicheinbringen behindernden Behinderungen und Problemen. Behindert wird man, zum Beispiel, gleichermaßen durch Mangel an Finanz (kann man sehr gut in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion studieren – jedoch nicht nur hier, sondern zunehmend auch in den westlichen Wohlstandsparadiesen – wo alle noch so entwickelte Fähigkeiten einem nichts nützen: man ist zum Darben und Nichtstun verdammt); durch unsensible Umgebung, die stur in ihren Schemen lebt und für nichts individuelles aufgeschlossen ist; weiter durch jede Initiative lähmende Bürokratie; oder auch – was seltener beachtet wird – durch eigene Vorurteile und Festgefahrenheiten; und was es sonst noch für Behinderungsfaktoren gibt.

Der erweiterte Begriff der Behinderung berührt denn auf der einen Seite den Pol der Behinderung durch körperliche Unstimmigkeiten, erstreckt sich über das Ersticken an verhärteter, unsensibler Umgebung (zuständig für diesen Spektrumsbereich etwa die „Internationale Vereinigung der Nyeudachniki) bis hin zu dem Pol des „geistig-seelischen Erstickens“ an eigenen Vorurteilen und Festgefahrenheiten (zu letzterem siehe etwa „Die Klamurke“).

Soviel mal als Einleitung.

Odessa, am 16. Mai 2009

In einem vor ein paar Tagen zustandegekommenen Blogeintrag findet man einige interessante bereits bestehende und auch sich entwickelnde Verkörperungen dieses erweiterten Begriffs der Behinderung

 

Odessa, am 29. Mai 2009

Das Thema setzte ich provozierenderweise in ein fast schon vergessenes Xing-Forum. Es gab brauchbare Beiträge; das meiste schrieb ich, angefeuert durch die Vermutung, es mit einer verstehenden Leserschaft zu tun zu haben, selbst.

Wichtige Erkenntnisse gab es in Bezug auf Menschen, die unbehelligt in funktionierende Strukturen eingebunden sind und sich darin so sicher fühlen, daß sie gar nicht dazu kommen, sie zu hinterfragen und mit denen man infolgedessen über außerhalb dieser funktionierenden Strukturen ablaufendes, überhöhte Wachheit und Anstrengung forderndes Leben gar nicht reden kann.

Als erstes sei der in Bezug auf letzteres erster Beitrag sowie meine Antwort darauf wiedergegeben, mitsamt dem Anfang eines sich daran anknüpfenden Briefwechsels:

 

Raymond

Zufällig stieß ich auf einen irgendwann mal dahinskizzierten, sogar veröffentlichten und wieder liegengelassener Ansatz, die allem übrigen Gekrisel zugrundeliegende geistig-seelisch-soziale Krisensituation vom Behinderungsgesichtspunkt aus aufzurollen (Gesichtspunkte, von wo aus man det aufrollen kann, gibt es natürlich viele).

[Der erweiterte Begriff der Behinderung berührt denn auf der einen Seite den Pol der Behinderung durch körperliche Unstimmigkeiten (…), erstreckt sich über das Ersticken an verhärteter, unsensibler Umgebung (…) bis hin zu dem Pol des „geistig-seelischen Erstickens“ an eigenen Vorurteilen und Festgefahrenheiten (…) usw…]

Einfach so als Anregung für allfällige sich dafür interessierende

Raymond

 S.

(…)

So ganz kann ich, glaube ich, nicht folgen...was Ihr da so verfolgt?

Behinderung durch "unsensibles Umfeld"?

Nur, wenn man sich behindern lässt ;)

Aber irgendwas ist interessant...auch wenn ich es nicht erfassen kann, gerade... 

Raymond

Es ist möglich, das nicht zu verstehen und zu glauben, es sei ganz einfach, "sich nicht behindern zu lassen", so lange man in wohl abgesicherten Strukturen lebt, an die man sich gewöhnt hat und in denen alles glatt zu funktionieren scheint. Ich denke aber, daß die sogenannte "Krise" nach und nach einigen Leuten Verständigungshilfe leisten wird.

Wenn man, zum Beispiel, sich jahrelang in Ländern der ehemaligen Sowjetunion herumgetrieben hat und sehen durfte, wie Leute, die wirklich was können (ich meine nicht nur Diplome haben, sondern tatsächlich was können) sich als Eis- oder Zeitungsverkäufer durchschlagen; wenn man selbst versuchte, in diesen Zusammenhängen was zu machen, bei satten westlichen Zeitgenossen auf Leute stieß, die lieber Tagungen organisierten, wo man wichtig tun kann, als Anteil zu nehmen (siehe etwa hier http://klamurke.com/Soziales/Rettung.htm; die Beispiele aus meinem näheren und ferneren Umfeld ließen sich beliebig vermehren) - da kann man noch so sehr "sich nicht behindern lassen wollen" - es geht einfach nicht weiter. 

Bei späterem Nachlesen fiel mir dann auf, daß die letzte Zeile in dem Beitrag von S. nicht richtig zu mir durchgedrungen war; was dann den Anstoß zu nachfolgendem Briefwechsel gab: 

Raymond

Hallo,

hab grad eben nochmal den bisherigen Verlauf des Gesprächs zu "einer Erweiterung des Begriffs der Behinderung" angeschaut und wollte mich für die etwas schroffe Antwort auf deinen ersten Beitrag entschuldigen.

Nämlich war, wie mir auffiel, der letzte Satz in deinem Beitrag "Aber irgendwas ist interessant... auch wenn ich es nicht erfassen kann, gerade..." nicht richtig zu mir durchgedrungen.

Wäre das richtig zu mir durchgekommen, so hätte ich meine Antwort vielleicht weniger schroff formuliert.

Aber andererseits: Vielleicht auch nicht schlecht, das mal in dieser Form zu sagen.

Der erste Teil deines Beitrags ist mir, seinem Inhalt und seiner Haltung nach, zur Genüge bekannt, und ich reagiere in der Regel allergisch: Daß Menschen, die beim warmen Ofen sitzen und satt sind (ich meine das sowohl physisch wie auch seelisch) gar nicht verstehen können, daß es Menschen geben soll, die nicht beim warmen Ofen sitzen und die hungern und dürsten (physisch wie seelisch).

Mir selbst ist, aus "inneren" wie "äußeren" Gründen, der Platz am warmen Ofen verwehrt; was automatisch zu einem entsprechenden Erfahrungshintergrund führt; aber ich bin mir bewußt, daß ich natürlich nicht das Recht habe, Menschen zu verachten, denen diese Erfahrung erspart bleibt. Normalerweise hätte ich damit auch keinerlei Probleme; das Problem entsteht dadurch, daß in der Regel Menschen, die durch behäbiges Eingesponnensein in gegebene, nicht von ihnen selbst jeden Moment neu zu schaffende "Ordnung" diejenigen, denen das Fertige zur Qual wird oder die durch äußere Umstände herausgeworfen werden - einfach bloß verachten und ihre eigene Erfahrung in dem behaglichen Gegebenen als das Absolute setzen. Und diese Intoleranz erweckt in mir als Echo gleichfalls Intoleranz.

Mea culpa.

Dein bereits zitierter, die Sache offen haltender Schlußsatz zeigt aber, daß man mit dir im Prinzip wohl noch reden kann. Ich zitiere nochmal (bzw. kopiere ihn rein):

"Aber irgendwas ist interessant... auch wenn ich es nicht erfassen kann, gerade..."

Ich weiß ja nicht, ob du viel auf Reisen bist; ob du weißt was es bedeutet, seinen eigenen Blick auf die Dinge gegen den Widerstand einer verhärteten Umgebung mühsam herausentwickeln zu müssen, usw...; wenn nicht, so kann es sein, daß verschiedene Erfahrungen dir verwehrt blieben; aber die aus dem Schlußsatz durchschimmernde Offenheit zeigt doch: daß du offen bist für fremde Erfahrung und daß du somit nicht Vertreterin jener Geistesart bist, auf die ich leicht mal allergisch reagiere.

Also noch einmal: Bitte um Entschuldigung

(das Thema ist wirklich interessant; je mehr ich darüber nachdenke, umso interessanter erscheint es mir; und das läßt sich in die verschiedensten Richtungen weitertreiben; weitertreiben nicht im Sinne von abstraktem Theoretisieren, sondern von Entwicklung lebendigen Verstehens) 

So weit der Anfang eines recht langen und nicht sehr ergiebigen Briefwechsels. Den Rest wollen wir uns ersparen.

Im Weiteren ein paar in jenem Forum erschienene zur Sache beitragende Gedankengänge

Raymond

Der westliche Mensch, und vor allem der Mitteleuropäer, leidet noch unter der zusätzlichen Behinderung: daß er nämlich zu sehr in seinen Kopf eingeschlossen ist. Im Kopf lassen sich dann die menschenfreundlichsten sozialen und auch geistigen Theorien konstruieren; und sogar die scharfsinnigsten Theorien über die Überwindung der Kopflastigkeit (letzteres hab ich aus allernächster Nähe miterlebt; saukomisch ist das), ohne daß in der faktischen Lebenshaltung auch nur das geringste sich ändern würde. Natürlich braucht man seinen Kopf; aber wenn es nicht gelingt, ihn richtig ins Leben zu integrieren wird er zu einem Behinderungsfaktor; und eben dieser Behinderungsfaktor macht die europäische Krisensituation so auswegslos.

Die Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion – zumindest in einigen dieser Länder – sind, ihrer ganzen Mentalität nach, in ihrem Denken stärker ins Leben integriert: weniger kopflastig, aber trotzdem häufig geistig beweglicher und „intelligenter“ als die in ihrer Sattheit und ihrer theoretisierenden Überheblichkeit versumpfenden „Westler“.

Dank dieser stärkeren geistigen Beweglichkeit war man nach Wegfall der tragenden Strukturen auch eher in der Lage, zu improvisieren; und, was sehr wichtig ist: man nahm sich gegenseitig noch wahr, griff sich, wo nötig, gegenseitig unter die Arme. Hätte es nicht so viele künstliche Störfaktoren gegeben, so wäre, wie mir scheint, für Rußland, Georgien, die Ukraine und vielleicht noch einige weitere Länder ein gesunder Neuanfang durchaus möglich gewesen. – Für den Westen mit seinen ausgeprägteren „Behinderungen“ seh ich bei Wegfall der gewohnten Krücken – und die werden ziemlich sicher wegfallen – eher schwarz; das wird ein Kampf aller gegen alle.

Im Übrigen ist der von mir vorgeschlagene Ansatz zu einer Erweiterung des Begriffs der „Behinderung“ keineswegs theoretisch gemeint: Es geht einfach darum, sich die verschiedenen Behinderungsfaktoren klar vor Augen zu führen, sie in ihrer Eigenart zu erkennen und zueinander in Beziehung zu bringen; darüber kann einem dann einiges klarer werden.

Und die schlimmsten Behinderten sind allemal diejenigen, die von ihren Behinderungen nix merken und erst zu sich kommen, wenn man ihnen die Krücken wegzieht.

Selbst hatte ich große Mühe, die verschiedenen europaspezifischen „Behinderungen“, mit denen ich aufwuchs, zumindest ansatzweise erkennend zu überwinden, und bin redlich bemüht, mich von diesen Gegenden nach Möglichkeit fernzuhalten. Womit ich aber niemandem einen Vorwurf machen will: wir können ja alle nix dafür, wie wir aufgewachsen sind; müssen halt, jeder auf seine Weise, sehen, wie wir die Nebel lichten.

Es grüßt aus Odessa

Raymond

 

Marc delle Grazie

Hallo an euch,

ich finde den Punkt in der menschlichen Entwicklung interessant, wo der Mensch sich seiner angeborenen Behinderung bewusst wird und nun versucht, aus dieser Behinderung irgendwie herauszukommen.

Diese Behinderung liegt in den familiären, politischen und gesellschaftlichen Strukturen und ich persönlich kenne niemanden, der diesbezüglich wirklich "frei" geboren wird und frei aufwächst.

Ich sehe es als ein Zeichen des Er-wachsen-werdens, ob ein Mensch sich zu einem Mindestmaß an Freiheit entwickeln kann, oder ob er in all den vereinahmenden Strukturen sein Leben lang hängenbleibt.

Es ist schon ein sehr großes Geschenk der Freiheit, diesen Mechanismus durchschauen zu können und es ist weiters eine große Verantwortung für den einzelnen, trotz aller beschränkenden Umstände die subjektive Freiheit auch zu leben und vorzuleben.

Grüße

Marc

 Raymond

Eben: bei der „Erweiterung des Begriffs der Behinderung“ geht es um ein Bewußtmachen der verschiedenen Faktoren, die uns innerlich unfrei machen.

Permanente innere Freiheit dürfte bei unserem doch ganz arg eingeschränkten Menschsein kaum möglich sein; höchstens während des Kampfes gegen die verschiedenen „Behinderungen“ aufblitzende einzelne Momente der Freiheit: wo wir die Motive und Triebfedern, die uns zu einer Handlung bewegen, genau überschauen.

 Wenn ich, unter Nutzung eines durch die soziale oder seelische Situation gegebenen Instrumentariums, einen anderen Menschen versklave, so bin ich normalerweise auch selbst unfrei: versklavt von Machttrieb oder sonstigen Begierden. Wenn ich das durchschaue und es vorziehe, mich nicht versklaven zu lassen, werde ich von solcher Maßnahme unter Umständen absehen.

 Es kommt auf die konkrete Situation an. Wenn, zum Beispiel, auf nächtlicher Straße jemand auf mich zukommt und meine Börse haben will, und ich gebe ihm meine Börse nicht, schlag in stattdessen vielleicht gar KO, so greif ich natürlich in die Freiheit seiner nach meiner Geldbörse strebenden Begierde ein (nicht unbedingt in seine Freiheit; vielleicht würde er bei näherer Erörterung der Situation gleich mir zu dem Schluß kommen, daß er kein Recht hat auf meine Geldbörse); aber in dieser konkreten Situation entschließ ich mich nun mal, das so zu halten.

 Das Freiheitsproblem und das Bewußtmachen jenes „Zentrums“ in uns, das durch die verschiedenartigsten „Behinderungen“ abgeschottet bleibt, gehört zu den schwierigsten und zentralsten Problemen überhaupt; in behaglicher „Diskussion“ läßt das sich natürlich nicht angehen, höchstens andeuten.

 Noch einiges zu den Behinderungen:

Die Behinderungsfaktoren sind in den verschiedensten „Seinsbereichen“ angesiedelt und von verschiedensten Graden der Heimtücke.

Der durch körperliche Krankheit an den Rollstuhl oder ans Bett gefesselte kann sich nicht in gleicher Art in das soziale Geschehen einbringen, kann nicht in gleicher Art sich des Lebens erfreuen wie ein Mensch mit normal funktionierendem Körper: ein mehr oder weniger naturgegebener Faktor, der die Möglichkeiten, die „Freiheit“ der äußeren Betätigung einschränkt. – Hinzu kommt hier der seelische Behinderungsfaktor: das ganze Geflecht an Vorurteilen über „normal“ und „nicht normal“. Wenn nun der durch körperliche Gebrechen am äußeren Tätigsein behinderte für sich dieses Vorurteilsgeflecht durchbricht; wenn er aufhört, sich an dem zu messen, was man üblicherweise als „normal“ betrachtet – so kann er unvoreingenommen die Spezifik seiner körperlichen Situation zu seinem sozialen Umfeld in Beziehung bringen und Möglichkeiten finden, sich sinnvoll einzubringen; wobei natürlich sehr viel davon abhängt, wie weit auch die Umgebung bereit ist, ihre Vorurteile abzubauen; bei unsensiblem, verhärtetem sozialem Umfeld ist es sehr viel schwieriger, sich diese innere Freiheit zu erkämpfen. Ein solcher körperlich beeinträchtigter Mensch, der sich freien Überblick über sich selbst und seine sozialen Bedingungen verschafft hat, ist sehr viel freier und weitaus weniger verkrüppelt als ein „Erfolgreicher“, der ohne zu fragen die Vorzüge eines funktionierenden Körpers, funktionierender sozialer Strukturen und ihm von irgendwoher zufallender wirtschaftlicher Möglichkeiten genießt.

Oder Menschen, die durch politische oder wirtschaftliche Katastrophen der Möglichkeit beraubt werden, sich in gesunder Wechselwirkung mit ihrer Umgebung zu entwickeln. Solches gesunde „Geben und Nehmen“, „soziales Strömen“ ist auch in den Wohlstandsstaaten nur wenig vorhanden; was vorhanden ist, sind meist bloß Surrogate in Gestalt wohlorganisierter – inzwischen allerdings zerbröckelnder – Strukturen. Bewußtsein und Bewußtseinsentwicklung ist da wenig vorhanden; Menschen, die während dieses Zerbröckelns den sicheren Halt verlieren und herausfallen, sind einfach bloß verdattert und kommen gar nicht mehr dazu zu verstehen: daß sie vorher nur an Krücken gingen und daß man ihnen nun die Krücken plötzlich weggezogen hat…

Die durch die westliche Wohlstandkatastrophe in jahrelangem undurchschautem Katastrophieren erzeugten Behinderungen sind viel heimtückischer, weil schwerer zu durchschauen (vor allem, weil man – außer wenn man instinktiv vom Leben noch irgendwas anderes erwartet als bloß Konsum – sich darin noch ganz behaglich einrichten kann) als die griffigeren Behinderungen etwa während der Stalinzeit oder der Hitlerzeit; auch wenn sie nicht direkt lebensbedrohend sind (indirekt lebensbedrohend schon, wie man an den sich häufenden Verzweiflungstaten sehen kann).

Und damit es nicht zuviel wird, wollen wir es erst mal dabei belassen.

Es grüßt

Raymond

 

Raymond

[Zitat aus dem vorangehenden Beitrag:]  "Wenn ich, unter Nutzung eines durch die soziale oder seelische Situation gegebenen Instrumentariums, einen anderen Menschen versklave, so bin ich normalerweise auch selbst unfrei: versklavt von Machttrieb oder sonstigen Begierden. Wenn ich das durchschaue und es vorziehe, mich nicht versklaven zu lassen, werde ich von solcher Maßnahme unter Umständen absehen."

 Bei dieser knappen, theoretisch klingenden Formulierung kann natürlich die Frage aufkommen: aus was für Gründen sollte ich es denn plötzlich vorziehen, mich durch Machttrieb und sonstige Begierden nicht versklaven zu lassen? So wie das da geschrieben steht klingt es nach kopflastigem Programm und gehört, deiner eigenen Aussage nach, genau so ins Reich der Behinderungen wie Machttrieb und sonstige Begierden. Ist es denn da nicht interessanter, sich der Behinderung durch den Machttrieb zu ergeben?

Der Einwand ist berechtigt; und in dieser knappen Formulierung klingt das tatsächlich wie ein im Kopf angesiedeltes abstraktes Programm, dem man sich, ungeachtet der jeweiligen konkreten Situation, unterwirft, um sich im Sinne selbigen Programms vor sich und anderen den Status eines „moralisch hochstehenden Menschen“ oder sonstige Etiketten zu verdienen.

Das ist aber nicht so gemeint.

Rein lebensmäßig ist es ja so: Wenn ich einen Menschen durch äußere Machtmittel versklave, durch seelische Machtmittel manipuliere – so kann, wenn ich nicht völlig abgestumpft bin, ein solches Ausleben meines Machttriebs von mehr oder weniger stark ausgeprägtem Unbehagen begleitet sein. Wenn ich diesem Unbehagen konkret nachgehe komme ich vielleicht dahinter: daß ich durch solches Machtausüben total vereinsame; daß ich mich selbst jeder Möglichkeit eines lebendigen Austauschs beraube; daß ich in meinen Festgefahrenheiten hilflos eingeschlossen bleibe, weil niemand da ist, der mich korrigieren könnte; und im Weiteren Verlauf der Untersuchung dieses Unbehagens finde ich vielleicht heraus, daß es, ganz allgemein, wesentlich angenehmer ist, als Freier unter Freien bzw. sich befreiender unter sich befreienden zu leben; und aufgrund einer solchen Einsicht werde ich dann, ganz ohne kopflastiges Programm, bemüht sein, meinen Machttrieb in Schranken zu halten.

„Moralität“ als Programm – vor allem wenn es in Fanatismus ausartet – gehört bei näherem Hinsehen genau so ins Reich der sublimen „Behinderungen“ wie unkontrolliertes Ausleben von Machttrieb uns sonstigen Begierden (andererseits natürlich, wenn es nicht in Fanatismus ausartet, bei aller Sterilität: ein notwendiges soziales Regulativ)

 so isses

Raymond

 

Ramona

Es scheint immer so nach außen, dass diese Menschen kaum die Freiheit genießen können, die wir glauben zu besitzen. Jedoch unterschätzen viele Menschen mit Behinderungen, so schwer die Behinderung auch sein mag. Denn dafür sind Menschen wie meine wenigkeit da, um Menschen mit eine Behinderung nicht weiter zu behindern, sondern sie dabei zu unterstützen Ihr Leben genauso normal, wie es für uns ist zu gestalten. Denn es gibt viele Ansatzpunkte, die der Staat selbst geschaffen hat, nach Vorbild seiner umliegenden Länder.

Jedoch stößt man durch diese Änderungen auf mehr Barrieren. Wurde diese gesetzlichen Änderungen aufgenommen, um nach Außen gut da zu stehen?

Ich denke zu teil schon, denn wenn man Anträge für das selbstständige Leben stellt, bekommt man mehr Barrieren in den Weg gestellt, als wenn man sich "versklaven" lässt. Beispiel wäre das Wohnhaus, es kostet nicht so viel, es läuft strukturiert und die Außenwelt wird nicht mit diesen Menschen konfrontiert. Muss das sein? Ist das der Richtige WEG?

Ich denke nicht, denn jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben in einer Gesellschaft zu leben und geachtet zu werden, egal wie schwer er beeinträchtigt ist.

Welche Wege seht ihr? 

Raymond

Diese Probleme hängen mit der weit verbreiteten Gesinnung zusammen, die den Menschen nur dann für voll nimmt, wenn er bestimmten vorgegebenen Normalitätskriterien genügt und im Sinne dieser Kriterien „funktioniert“,

Der zerstörerische Einfluß dieser Gesinnung wird im Falle der im hergebrachten Sinne „Behinderten“ nur ganz besonders griffig; aber wenn man die Sache näher untersucht sieht man, daß er viel weiter reicht.

Besonders griffig wird er in letzter Zeit auch im Falle von Menschen, die durch soziale, wirtschaftliche Bedingungen in die Enge getrieben und „behindert“ werden (siehe etwa http://klamurkisches.blogspot.com/2009/05/metamorphosen-der-unterdruckung.html)

Menschen, die aus den verschiedensten Gründen den Normalitätskriterien nicht mehr genügen, fallen für die öffentliche Meinung gewissermaßen aus dem Menschsein heraus; und man kümmert sich grad eben genug um sie, als nötig ist, um den Ruf eines „fortschrittlichen Staates“ nicht zu gefährden.

 

[Obige Notizen wurden, zusammen mit einigen weiteren zur Sache beitragenden Materialien, in einer PDF-Datei zusammengefaßt, die man bei Bedarf hier herunterladen kann (Datei "Behinderungsbegriff_DE). Sollten sich in dieser Thematik nennenswerte Entwicklungen ergeben, so würde die Datei entsprechend aktualisiert].

Für Fragen, Einwände sowie weiterführende Gedanken gab es das Forum, welches inzwischen wegen nicht mehr zu bändigender Spamüberflutung geschlossen wurde. Nachfolgendes Link führt zu einem in diesem Zusammenhang relevanten Eintrag im klamurkischen Blog, wo man sich bei Bedarf weiter unterhalten kann.

Forum

Zum Weiterempfehlen  

Raymond Zoller

 

 

eXTReMe Tracker