Die Klamurke Soziales

Briefe aus Tbilissi

Nachfolgendes weder Literatur noch sonst irgendwas g’scheites. Ganz einfach: Auszüge aus ein paar im letzten Julidrittel des Jahres 2004 geschriebenen Briefen, die von allgemeinem Interesse scheinen. Mehr oder weniger im Rohzustand, fast unbearbeitet; nur ein paar Namen wurden unkenntlich gemacht und drei Fußnoten eingefügt.

Eben: vielleicht interessant.

 

20. Juli 2004

[...]

Schockierendes erzählte mir V. übrigens von ihrer Nachbarin, der einzigen Überlebenden jenes Verkehrsunfalls, von dem ich dir berichtete: Die hat also einen Oberschenkelbruch, und ihr linker Ellbogen ist zerschmettert. Sie lag nun die zwei seit dem Unfall verstrichenen Wochen in Bordshomi im Krankenhaus, bekam Morphium gegen die Schmerzen; und sonst geschah: nichts. Und zwar geschah außer der Verabreichung von Morphium aus dem Grunde nichts, weil sie kein Geld hatten für eine Behandlung. Inzwischen haben sie von irgendwoher Geld aufgetrieben; anscheinend gibt es sogar plötzlich irgendwelche Unterstützung von staatlichen Stellen; und gestern wurde sie denn in ein Tiflisser Krankenhaus überführt, und man begann, sie zu behandeln. Und hätte sich solches nicht ergeben, so wäre das vermutlich so lange weitergegangen, bis sie, ausgezehrt durch das Morphium und die unbehandelten Wunden, für die nächste Beerdigung gesorgt hätte. – Der Ellbogen sei nicht mehr zu retten gewesen; der Oberschenkelbruch sei dafür nicht kompliziert; nur ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie nach dieser zweiwöchigen Verzögerung noch am Rollstuhl vorbeikommt.

So lebt man hier... Und in Deutschland streiken, wie ich in den Nachrichten sah, die Arbeiter von Daimler-Chrysler wegen irgendwelcher Urlaubszuschüsse[1]. Solches Volks sollte man nach Georgien schicken... Doch vielleicht wird es in Deutschland irgendwann noch schlimmer aussehen als in Georgien; weiß der Teufel. [...]

 

 21. Juli 2004

In Sachen Aufdecken von Fällen unterlassener Hilfeleistung hätte der Enthüllungsjournalismus hier alle Hände voll zu tun. Der Fall von V.’s Nachbarin ist ja nicht etwa ein extremer Einzelfall, sondern ein mir zufällig zu Ohren gekommener ganz alltäglicher Normalfall. Hätte ich damals I. nicht die dreihundert Euro ins Krankenhaus gebracht, so hätte niemand daran gedacht, sie zu operieren (und auch ins Krankenhaus nahm man sie nur auf, weil sie fest versprach, das Geld würde im Laufe des Tages übergeben); und nach der Operation kümmerte man sich kaum um sie, bis die 500 Dollar für die Nachbehandlung übergeben waren; nach Übergabe der 500 Dollar waren plötzlich alle sehr freundlich und dienstbeflissen. Und hätte eine glückliche Konstellation von Umständen nicht dafür gesorgt, daß sie Operation und Nachbehandlung bezahlen kann, so wäre sie wegen dieser Blinddarmsache längst unter der Erde; und alle würden das, notgedrungen, normal finden.

Wobei man, mit etwas Mühe zwar, diese Ärzte sogar verstehen kann: Die müssen ja auch leben. In Moskau kannte ich Anfang der neunziger Jahre Ärzte, die ohne Bezahlung (und teilweise unter Einsatz ihrer spärlichen privaten Mittel) von früh bis spat unter widrigsten Bedingungen im Einsatz waren (denke vor allem an ein Team, welches diabeteskranke Kinder behandelte; aber auch andere); zweifle nicht daran, daß es auch in Georgien solches Volks gibt; aber insgesamt kann man Heldentum nicht postulieren; manche wurden Arzt, weil man halt irgendwas werden muß und weil sie Geld verdienen wollten; und wenn kein Geld kommt, arbeiten sie nicht. In den westlichen Ländern wäre es nicht anders; nur ist dort Geld da für die Behandlung; und dann gibt es noch in den meisten Ländern die Gesetzgebung in Sachen unterlassene Hilfeleistung, die besonders für Ärzte sehr ärgerlich werden kann. Hier gibt es in der Regel weder Geld für eine Behandlung, noch gibt es ein Gesetz in Sachen Unterlassen von Hilfeleistung[2]; und deshalb ist medizinische Betreuung Glückssache.

Wegen der zerrütteten Wirtschaft ist kein Geld da; deshalb kann man „dem Staat“ oder sonstigen hiesigen Instanzen daraus eigentlich keinen Vorwurf machen. Einen Vorwurf mach ich, zum Beispiel, Freund X[3]: hätte der, statt groß zu reden, richtig mitgezogen, so wäre es unter Umständen gelungen, die Firma zu gründen und auch den Fonds und unsere Arbeit richtig in Gang zu bringen. Bei günstiger Entwicklung hätten wir mit unserer Gasmaskenfilterproduktion und sonstigem inzwischen eine Reihe normal bezahlter Arbeitsplätze geschaffen; vielleicht hätte unser Fonds aus diesen und jenen Quellen die Mittel zusammen, in diesen und jenen Härtefällen lindernd einzugreifen... Selbst bei günstigster Entwicklung immer noch erbärmlich; aber doch: für Vereinzelte bereits ein Ausweg; mit Chancen zur Ausweitung. Doch Leuten wie X reicht es, wenn sie selbst zu den vereinzelten Begünstigten gehören, vor allem auch, da es ihm gelungen, diesem unsicheren Grund den Rücken zu kehren und sich in den Schoß der wohlorganisierten deutschen medizinischen Versorgung zu begeben.

Und ein Ärgernis sind mir auch, zum Beispiel, jene streikenden deutschen Daimler-Chrysler-Arbeiter; obwohl sie ja nicht so direkt eingreifen könnten (oder vielleicht doch?); einfach, weil ich in ihnen hervorragende Vertreter sehe von jenem extremen dumpfen Egoismus, der in seiner Dumpfheit nicht einmal merkt, wie er sich selbst den Ast absägt, auf dem er sich bequem gemacht hat. [...]

 

23. Juli 2004

[...] Daß unsere freie Marktwirtschaft eine verdeckte Sklavenwirtschaft ist, iss det eine. Ein weiteres iss, daß das Volks mit den seinem Sklavendasein abgetrotzten höheren Löhnen und dem Mehr an Freizeit nichts rechtes anzufangen weiß (der Kultur-und Sinnverfall iss ja eine nicht zu übersehende Tatsache) und nun, wie mir scheint, die diffuse Hoffnung hegt, bei noch mehr Einkommen und noch mehr Freizeit ließe sich die Leere überwinden (erinnert mich an unsere Freundin Y [...], die sich partout nicht in die Arbeit mit dem Computer einfinden konnte und diesem Problem zu entrinnen hoffte, indem sie immer mehr und mehr Literatur über die Arbeit am Computer kaufte und ungelesen in ihren Bücherschrank stellte).

Wenn man die Dinge locker nimmt und sich nicht darüber ärgert – ein durchaus komisches Schauspiel. Wir leben in lustigen Zeiten...

 

 

[1] Die genauen Forderungen hab ich nur flüchtig überflogen und gleich wieder vergessen, da das mir nicht wesentlich schien. Wesentlich schien mir anderes.

[2] Oder vielleicht gibt's auch eins, irgendwo wohl versteckt; sicher aber ist, daß es, ob existierend oder nicht, nicht zur Anwendung kommt

[3] Jemand aus Georgien, der Anfang der neunziger Jahre nach Deutschland emigrierte

 

Raymond Zoller