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Phrase

Vom normalen Wirklichkeitsverlust

(aus einem anno 1918 von einem österreichischen Denker gehaltenen Vortrag)

[…]

Nicht wahr, eine große Rolle in der Art und Weise, wie die Menschen sich hinstellen auf die verschiedenen Pole ihres Lebens, die verschiedenen Standpunkte des Lebens, spielt der Ehrgeiz, die Eitelkeit. Es hätte ja mancher niemals diesen oder jenen Posten angestrebt, wenn nicht die soziale Struktur Veranlassung gewesen wäre, daß diese Eitelkeit nach der einen oder anderen Richtung aufgestachelt wird. […] Und versuchen Sie nur einmal, sich unbefangen darüber Gedanken zu machen, wieviel in dem, wie die Menschen im Leben stehen, rein dadurch bewirkt worden ist, daß sie strebten nach diesen Fischangeln des Ehrgeizes, nach diesen Ködern. Versuchen Sie einmal zu bedenken, wie die Menschen, der eine über den anderen, der eine unter den anderen gestellt werden; wie die sozialen Einrichtungen mit diesem Ehrgeiz rechnen. Versuchen Sie sich klarzumachen, wie das die soziale Struktur aufgebaut hat. […]

Betrachten wir eine andere Erscheinung, die jetzt anfängt geübt und bewundert zu werden. […] Achten Sie unter den verschiedenen jetzt in der Gegenwart beliebt werdenden Dingen auf manches, so werden Sie unter diesem Manchen das finden, was man jetzt die «Begabtenprüfungen» nennt. Begabtenprüfungen dienen dazu, aus der Reihe der Kinder und jungen Leute die begabten auszusondern. Es droht der wahre Götzendienst mit diesen Begabtenprüfungen entwickelt zu werden. Wie macht man das? Man hat geschulte Psychologen, die zwar nichts von der Seele verstehen, die aber die Psychologie um so besser verstehen; Psychologen, die nach den Methoden der Gegenwart ausgebildet sind, und die befähigt sind, dadurch aus einer Reihe von jungen Leuten oder Kindern die begabten auszusuchen, damit der rechte Mann später am rechten Platz stehen kann, selbstverständlich. Man ködert nun weniger, glaubt man, in der Zukunft mit dem Ehrgeiz, mit der Eitelkeit, aber man macht Begabtenprüfungen. Diese Begabtenprüfungen beziehen sich auf die Schnelligkeit des Auffassens, auf das Gedächtnis. Es werden sinnlose Wörter hingeschrieben, und derjenige, der sie schneller behalten kann, hat ein besseres Gedächtnis als derjenige, welcher sie weniger schnell behalten kann. Intelligenzprüfungen macht man. Ein Wort, ein zweites, ein drittes Wort, die keinen Zusammenhang haben, gibt man, und dann läßt man die Schüler einen Zusammenhang finden. Also man schreibt zum Beispiel auf: «Räuber» und «Spiegel» und sagt: Nun denke du dir einmal etwas zwischen Räuber und Spiegel. - Der eine denkt nun: Der Räuber sieht sich im Spiegel. -Der andere denkt: Ich habe einen Spiegel in meinem Zimmer, ein Räuber schleicht sich herein, und ich sehe dies im Spiegel. - Der letztere hat komplizierter gedacht, der ist also begabter. Dann wird die Sache noch statistisch gemacht, und es werden diejenigen ausgefischt, welche am allerintelligentesten sind; die werden dann als diejenigen genommen, welche als die richtigen Menschen an den richtigen Platz gestellt werden.

Sehen Sie, derjenige, welcher von solchen Voraussetzungen aus, wie sie jetzt hier gemacht werden, gegen diese großartige Errungenschaft der Gegenwart etwas einwendet, der gilt doch als ganz plumper Narr, der nichts weiß von alledem, um was es sich handelt.

Nun, rücken wir einmal diese ganze Sache in unsere Erkenntnis herein. Was prüft man denn, indem man so den Menschen prüft? Nichts prüft man, was mit seiner Seele wirklich zu tun hat. Man braucht sich ja nur eines zu überlegen: daß wahrscheinlich die bedeutendsten Menschen der Vergangenheit, die das Höchste geleistet haben, nach solchen Prüfungen als die unbegabten hätten gelten müssen. Denken Sie sich sogar den von den heutigen Menschen als Zelebrität angesehenen Helmholtz; wenn er so einer Begabtenprüfung unterzogen worden wäre, würde er ganz sicher nicht auf den Posten gekommen sein, auf dem er später gestanden hat. Mit der Entwickelung der Seelenfähigkeiten der menschlichen Individualität haben diese Begabtenprüfungen gar nichts zu tun, […]. […] Denn das, was ich Ihnen jetzt erzählt habe von den Begabtenprüfungen, das wird von einer großen Anzahl von Leuten und ihrem journalistischen Nachläufertum geradezu als eine der bedeutsamsten Errungenschaften der Gegenwart hingestellt, so hingestellt, daß sich auf Grundlage dieser Prüfung die soziale Struktur der Zukunft aufbauen kann. Und das Publikum, das ja nicht autoritätsgläubig ist, dieses arme Publikum hat gar nicht die Möglichkeit nachzudenken über das, um was es sich bei einer solchen Sache eigentlich handelt. Es hat nicht die Möglichkeit, sich klare Begriffe über eine solche Sache zu bilden. Das ist es aber, worauf es ankommt.

Wenn Sie sich heute aus mancherlei von dem, was wir auf unsere Seele haben wirken lassen, Begriffe davon bilden, was zunächst zu geschehen hat für die Menschheit, was im Sinne des geistigen Entwickelungsstromes zu geschehen hat, dann fragen Sie das Richtige. Dann werden Sie aber bemüht sein, die menschlichen Individualitäten zu erfassen, um ihnen dasjenige, wofür Interesse sein muß, beizubringen. […]. Man prüft ja nur den Geist in der äußeren Leiblichkeit. Man prüft den Menschen nur, sofern er Maschine ist, wenn man ihn dieser Begabtenprüfung unterzieht. Und man stellt eine soziale Auslese her, die nur die besten Arten der physischen Maschine zu Leitern der Menschheit macht. Man reflektiert nirgends auf dasjenige, was im Grunde der Seele ruht, und was bei solchen Prüfungen niemals an die Oberfläche kommen kann. Aber ich werfe niemandem vor, wenn er heute geradezu götzendienerisch solchen Dingen nachläuft, denn derjenige, der sich gar nicht mit Geisteswissenschaft befaßt, kann ja nichts anderes tun, als sich dem Urteil hinzugeben, das sei das Gescheiteste, was man in der Gegenwart machen kann. Aber dieses führt allmählich ganz weg von der realen menschlichen Lebendigkeit, von der menschlichen Wirklichkeit. Es führt in abstrakte Gebiete, in dasjenige, was im Menschenleben tot ist […]. Man muß schon den vollen Ernst solcher Sachen durchschauen, wie die Menschen abgezogen werden von dem Wirklichen. Und das ist etwas, was einem in der Gegenwart mit besonderer Intensität entgegentritt: das Abgezogenwerden der Menschen von der Wirklichkeit. Wer nämlich keinen Sinn hat für die geistige Wirklichkeit, der verliert nach und nach auch den Sinn für die gewöhnliche äußere Wirklichkeit, die ihn alltäglich umgibt, wenn er nicht durch seinen Beruf oder anderes gezwungen wird, die Wirklichkeit zu beachten.

Ich will Ihnen auch dafür ein Beispiel geben: Da ist etwas sehr Niedliches in den letzten Tagen passiert. In einer sehr gelesenen Zeitung erscheint ein Artikel von Fritz Mauthner, dem Kritiker der Sprache. In diesem Artikel schimpft dieser Fritz Mauthner, der ein außerordentlich gescheiter Mensch ist, über ein Büchelchen, das in der Sammlung «Aus Natur und Geisteswelt» erschienen ist, und das in einer ganz im Sinne der gegenwärtigen materialistischen Wissenschaft gehaltenen Weise entwickelt - und zwar so, wie es ein heutiger Universitätsprofessor macht -, wie die astrologischen Vorstellungen sind, die sich so ergeben haben. Am Schlusse entwickelt der Betreffende das Horoskop von Goethe und setzt dabei auseinander, daß man an diesem zeigen könne, wie die Dinge in Goethes Leben verlaufen sind. Aber eigentlich macht sich der gute Professor nur lustig über diejenigen, die auf Horoskope etwas geben. Er will sie hinstellen als etwas, was so oder so gedeutet werden kann. Fritz Mauthner schimpft und schimpft durch drei Spalten des «Berliner Tageblattes» hindurch. Man konnte nicht verstehen, warum er denn eigentlich schimpft. Es bestand nicht die geringste Veranlassung zu schimpfen. Er hat eigentlich die gleiche Meinung wie der, der das Büchelchen geschrieben hat, beide betrachten die Astrologie von demselben Standpunkte aus. Und sehr bald hat auch das Tageblatt eine Berichtigung des Verfassers gebracht, worin dieser sagt, er verstehe Mauthner nicht, er habe zwar nicht auf jeder dritten Zeile ausdrücklich gesagt: Ich schimpfe auf Astrologie -, aber er habe eigentlich nicht mehr Interesse an der Astrologie als Fritz Mauthner auch; er sei ganz einverstanden mit ihm. Das «Berliner Tageblatt» - Zeitungen sind sehr gescheit - setzt hinzu, daß es keine Veranlassung habe, sich des Verfassers anzunehmen und etwa Fritz Mauthner Mißverständnisse vorzuwerfen. Fritz Mauthner war nämlich langjähriger Theaterkritiker des «Berliner Tageblattes» und schreibt jetzt eine Art Theaterbriefe für diese Zeitung.

Fritz Mauthner seinerseits sagt, er habe auch nichts zu sagen zu dieser Antikritik des Autors. Man stand vor der sonderbaren Tatsache, daß da zwei Leute eigentlich ganz miteinander einverstanden sind, aber der eine haut auf den anderen drauf. Fritz Mauthner wird also schon wild, wenn er nur etwas hört von Astrologie, oder wenn einer von Horoskop etwas schreibt. Es wäre sonst nicht denkbar, daß er diesen Artikel geschrieben hätte. Er schreibt so, als wenn der andere der furchtbarste Astrologe wäre, der den Leuten die Gültigkeit des Goetheschen Horoskopes an den Kopf werfen wollte. Da haben Sie also ein Beispiel, wie zwei Leute sich gegenseitig bekämpfen, der eine freiwillig, der Fritz Mauthner, der andere notgedrungen, weil Fritz Mauthner ihn zuerst angegriffen hat, zwei Leute, zwischen denen nicht die geringste Differenz ist. Wie kann das sein? So etwas kann doch nur dann eintreten, wenn zwei überhaupt mit der selbst engbegrenzten Wirklichkeit, um die es sich handelt, nichts zu tun haben, wenn beide aus etwas anderem heraus leben als aus der Wirklichkeit. Das glorioseste Beispiel, daß man heute redet und redet, und sehr gescheit redet - Fritz Mauthner ist ein sehr gescheiter Mensch -, aber hinter dem Gerede steckt gar nichts. Es ist nicht die geringste Veranlassung dazu, daß man so redet.

Da haben Sie ein Beispiel für ein ganz logisches Aufbauen von Gedanken, die überhaupt gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Dahin kommen Gedanken, die sich abgewöhnen, mit der geistigen Wirklichkeit etwas zu tun zu haben, denn dann verliert der Gedanke allmählich überhaupt seine Beziehungen zur Wirklichkeit. Das ist wichtig, so etwas einzusehen. Das ist auch der furchtbare Ernst der Sache. Denn schließlich, ob der Fritz Mauthner und der Heidelberger Professor aufeinander loshacken und ihre Worte überhaupt keine Bedeutung haben, weil keine Realität dahintersteckt, oder ob es zwei Politiker sind, von denen der eine in Amerika und der andere in Europa redet, und die vielleicht auch einmal einig reden, trotzdem sie total verschieden sind, darauf kommt es nicht an. Wenn alle Leute, die so reden, absolut fremd sind der Wirklichkeit, nichts zu tun haben mit dem, was real in den Dingen lebt, dann kommt eben dieses der Wirklichkeit Entfremdetwerden, das breitet sich dann aus. Es hat sich ausgebreitet. Denn das ist nur ein groteskes Beispiel, das ich angeführt habe, dieses Beispiel von Fritz Mauthner und dem Professor Boll. Aber das ist überall vorhanden. So wird es heute überhaupt gemacht. Und wozu führt es? Zum Streit führt es. Einig kann man verhältnismäßig leicht sein, wenn man sich mit der Wirklichkeit befaßt; wenn man aber so zur Wirklichkeit steht, führt das zum Streit. Nach und nach werden die Menschen einsehen, wieviel von unseren katastrophalen Ereignissen mit dieser Grundstimmung der Gegenwart zusammenhängt, was das für eine ernste Sache ist. Denn gehen Sie einmal hinaus — es handelt sich um eine der gelesensten Zeitungen in Deutschland -, fragen Sie bei den zahlreichen Lesern, ob sie überhaupt auf das Groteske kommen, auf das Paradoxe, das da zutage tritt! Das geht alles an den Menschen vorüber. Aber an den Ereignissen geht es nicht vorüber; da hat es seine bitterbösen Wirkungen. Denn dasjenige, was da gemacht wird, ist ja nichts anderes als der Mißbrauch menschlicher Geisteskraft. Denken Sie, wenn diese Geisteskräfte, die dafür nichts verbraucht werden, weil sie wirklichkeitsfremd sind, in richtigem Sinne angewendet würden, dann würde die Wirklichkeit gefördert, dann würde das in der normalen Strömung drinnen stehen; […]. Wirklichkeitsfremd ist es für die mittlere Strömung, aber es geschieht, es rutscht in eine Sphäre, und das ist es, worauf es ankommt. Das ist der Ernst der Sache. Es geht nicht wie null vorüber, sondern es rutscht in eine andere Sphäre und schafft Tatsachen. Tatsachen schafft es, die nicht den wahren Verhältnissen entsprechen. Denn, schon äußerlich, rein rationalistisch, rein denkerisch läßt sich ja ausmalen, wie das Tatsachen schafft.

Nicht wahr, unsere Zeit ist ja nicht autoritätsgläubig. Die Leute prüfen alles, und das Beste behalten sie! Dennoch kommt es natürlich vor, daß Menschen autoritätsgläubig sind. Ein Mensch wie Fritz Mauthner hat unzählige Anhänger, die aufs Wort glauben, was er sagt. Die werden natürlich durch solch einen Artikel beeindruckt. Denken Sie, wie viele Gedanken angeregt werden durch solch einen Artikel. […] Die Sache ist unwirklich, und die Dinge werden in eine Unwirklichkeit dadurch gestoßen. Das ist es, worauf es ankommt.

Was man möchte mit solchen Dingen, meine lieben Freunde, ist dies: auf den ungeheuren Ernst, der hinter solchen Betrachtungen steht, immer wieder und wieder hinzuweisen. Denn es ist schon so: Dasjenige, was ich in einzelnen Fällen charakterisierte, Sie treffen es heute auf Schritt und Tritt. Wir sind in der Zeit, in der wir nur das Richtige wirken, wenn wir uns dazu entschließen, unbedingt klar zu sehen, vorurteilslos, unbefangen zu sehen, dem Leben uns unbefangen gegenüberzustellen. Das ist unsere Aufgabe. […]

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Rudolf Steiner
Aus dem Vortragszyklus „Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges“

Raymond Zoller