Die Klamurke Belletristik

Von Krokodilen und Lehrerinnen

Warum ich nicht als Krokodil zur Welt kam, weiß ich nicht.

Stattdessen ward ich geboren in der stillen und harmonischen Enge einer dörflichen Familie und wuchs auf unter der liebevollen Obhut allzeit um mein Wohl besorgter Eltern.

Krokodile gab es in jenem Dorfe keine; nur Leute, Kühe und Hunde.

Die Leute waren die schlimmsten, weil man immer so tun mußte wie sie, um sie nicht gegen sich aufzubringen. Waren sie gegen einen aufgebracht, so konnten sie einem manchen Ärger bereiten. Die Hunde bissen einen ab und zu; doch das heilte und war weiter nicht schlimm. Die Kühe gaben Milch, die ich nicht ausstehen konnte, besonders wenn sie lauwarm war; doch ansonsten ließen sie einen in Ruhe.

Die Lehrerin, die mir das Leben und Schreiben beigebracht hätte, wenn ich es bei Einsetzen unserer Bekanntschaft nicht schon gekonnt hätte, war sehr dick; und ich dachte manchmal, daß ein Krokodil sicher sehr großes Vergnügen an ihr finden würde. Denn Krokodile haben immer viel Appetit. Doch vielleicht hätte das Krokodil auch bloß einen Schrecken bekommen, wenn es sie gesehen hätte, und wäre davongerannt. Obwohl Krokodile wegen ihrer kurzen Beine ja nicht sehr schnell laufen können; ja nun: vielleicht wäre es nicht davongerannt, sondern hätte sich einfach, so schnell es eben kann, entfernt. Denn sie sah schon sehr schrecklich aus, diese Lehrerin. Wir hatten es schwer miteinander; sie mochte mich nicht, und ich sie noch viel weniger.

Obwohl sie sehr dick war und schwer zu übersehen, verlor ich sie dann später aus den Augen. Ob sie von einem Krokodil gefressen wurde, weiß ich nicht. Doch halte ich es für unwahrscheinlich, da auch Krokodile sicher über ein gewisses Gespür für Ästhetik verfügen.


© Raymond Zoller