Die Klamurke Belletristik

Meine Ur-Urgroßtante




Was gibt es schöneres auf der Welt, als eine berühmte Ur-Urgroßtante zu haben!

Meine Ur-Urgroßtante ist zwar nicht berühmt, aber um ein Haar wäre sie es worden. Wie das kam. daß sie fast berühmt worden wäre und dann doch nicht berühmt wurde, ist eine komplizierte Geschichte; und obwohl es eine komplizierte Geschichte ist, will ich versuchen, sie zu erzählen:

Zu jenen Zeiten, als meine Ur-Urgroßtante fast berühmt worden wäre, lebten die Leute ganz anders als jetzt; und auch denken taten sie anders; und sie waren auch nicht so angezogen wie heute. Denn das ist naturgemäß schon sehr lange her; und wie unsere Historiker, die ich dank dem wohltätigen Einfluß meiner Ur-Urgroßtante unermüdlich lese, immer wieder und auch zu recht betonen, ändern sich mit den Zeiten auch die Sitten; und was heute heilig ist, war es gestern vielleicht nicht und wird es vielleicht auch morgen nicht mehr sein. Woher das kommt, weiß ich nicht; und auch die Historiker widersprechen einander in ihren Erklärungsbemühungen und streiten zudem dauernd, so daß ich den Verdacht hege, daß auch sie es nicht wissen. Doch wie dem auch sei und woher auch immer das kommen mag - nicht zu übersehen ist. daß mit den Zeiten auch die Sitten sich ändern und daß dauernd alles anders wird. Daß, wenn man so sagen darf, nichts bleibt wie es war.

So war es denn meiner Urgroßtante beschieden, unter Umständen zu leben, die sich in starkem Maße von denjenigen unterschieden, unter denen wir heute zu leben haben. Wie sie sich darin zurechtfand, weiß ich nicht; doch da sie Zeitgenossin jener Umstände war, wird sie sie sicher genügend studiert haben, um sich einigermaßen orientieren zu können; vor allem auch deshalb, weil sie um ein Haar berühmt worden wäre und deshalb ganz sicher über einen gewissen Überblick verfügen mußte. Wennauch andererseits es nicht immer vonnöten scheint, über Überblick zu verfügen, um berühmt zu werden; und zudem ist man auch als Zeitgenosse nicht unbedingt dagegen gefeit, daß die Gegenwart, in der man zu leben hat, einem unverständlich bleibt. So kann zum Beispiel ich von mir selbst mit letzter Sicherheit sagen, daß von dem, was um mich herum vorgeht, so gut wie alles mir unbegreiflich ist. Aber sicher war meine Ur-Urgroßtante da begabter als ich; denn sonst hätte sie nicht - obwohl solches, wie bereits angemerkt, auch ohne besondere Begabung möglich scheint - um ein Haar berühmt werden können.

Es ist fürwahr interessant, wie die Umstände und die Ideale sich manchmal ändern.

Als ich ein Kind war, brachte man mir zum Beispiel bei, daß ich, wann immer ich mich anschicke, eine Straße zu überqueren, zuerst nach links schauen muß und dann nach rechts. An diesem Brauch hat sich bis heute nichts geändert; höchstens, daß es Gegenden gibt, in denen es umgekehrt ist, wo man also zuerst nach rechts schauen muß und dann erst nach links. Wie solches zu Zeiten meiner Ur-Urgroßtante war, weiß ich nicht; doch ist das auch nicht so wesentlich; und ich möchte es nur als Beispiel bringen für etwas, was sich unter Umständen ändern könnte. Besagter Brauch läßt sich zunächst, zumindest auf den ersten Blick, aus gewissen äußeren Bedingungen herleiten, die mit dem Straßenverkehr zusammenhängen. Deshalb wäre es durchaus denkbar, daß man zu Zeiten, da meine Ur-Urgroßtante lebte, von solchem Brauche noch nichts wußte, weilnämlich der Straßenverkehr damals noch nicht so entwickelt oder gar überhaupt noch nicht vorhanden war. Und vielleicht gibt es in hundert Jahren keinen Straßenverkehr mehr, weil irgendwelche anderen Beförderungsmittel erfunden werden; doch muß das nicht bedeuten, daß dieser Brauch dann abgeschafft wird; vielleicht erhält er sich als Tradition auch weiterhin; und wenn die Eltern dann ihrem Kinde beibringen, es müsse, wenn es eine Straße überquert oder einen Weg, zuerst nach links schauen und dann nach rechts, und wenn das Kind dann frägt. warum es das tun muß, werden sie vielleicht antworten, es soll nicht so dumm fragen. Andererseits kann man aber auch nicht wissen, ob es diesen Brauch nicht auch schon früher gab, als noch kein Straßenverkehr existierte. Denn es könnte durchaus sein, daß dieser Brauch die Verkörperung einer in Ewigkeit existierenden absoluten geistigen Größe darstellt; daß er somit nicht durch gewisse äußere Umstände des Straßenverkehrs bedingt ist, sondern daß, umgekehrt, die zugrundeliegenden metaphysischen Gegebenheiten – oder Ideen, oder wie immer man es nennen will - notwendig und zwingend etwas später auch den Straßenverkehr mit den auf ihn ausgerichteten spezifischen Bedingungen hervorgerufen haben. Man kann ja nie wissen. Die Welt ist kompliziert; und wenn man sie unter Einschluß ihrer metaphysischen Grundlagen betrachtet, sogar noch viel komplizierter. Deshalb ist es durchaus möglich, daß unsere Vorfahren von Kindesbeinen auf lernten, daß man vor Überqueren eines Weges zuerst nach links schauen muß und dann nach rechts; und daß ihre Eltern genau so wenig wußten, wozu das gut sein sollte, wie unsere Nachfahren es vielleicht wissen werden; und daß sie entsprechende Erkundigungen ihrer Kinder mit der Bemerkung quittierten, sie sollen nicht so dumm fragen. So daß es also durchaus möglich ist. daß auch meine Ur-Urgroßtante, ganz egal, ob es damals schon Autoverkehr gab oder nicht, vor Überqueren eines Weges zuerst nach links schaute und dann nach rechts.

Doch ist das, wie gesagt, nicht wesentlich und soll nur als Beispiel dienen dafür, daß sie manche Dinge, die unser heutiges Leben prägen, möglicherweise noch nicht oder höchstens nur ihrer äußeren Form nach kannte, gewissermaßen als aus dem Metaphysischen ins Irdische verirrte Spritzer.

Was dann sonst noch mit meiner Urgroßtante war, weiß ich nicht. Denn das ist nun schon sehr lange her; und zudem war ich damals noch gar nicht geboren...




© Raymond Zoller