Die Klamurke Belletristik

Der Fall

Als Onkel Otto gestern dem Jesus nachfolgte, fiel er, alsda er nicht aufpaßte, schon nach kurzem Wege über einen spitzen Stein und blieb, da ihn die Kräfte verließen, so liegen, allwie er gefallen. Und alsbald schon mußte er sehen, wie der Jesus mit seinen Getreuen hinter einer Wegbiegung verschwand.

Der Jesus aber, nachdem er mit denen, die ihm folgten, die Wegbiegung genommen, blieb stehen und sah sich um; und mit lauter Stimme fragte er die ihm Verbliebenen:

"Wer hat meinen Knecht Onkel Otto gesehen?"

"Vorhin war er noch da," antwortete Karl Friedrich.

"Was rührt uns das Vorhin," wies Jesus ihn zurecht "Wo aber ist Onkel Otto jetzt, zu dieser Minute?"

"Das weiß ich nicht," gestand Karl Friedrich zerknirscht.

"Er s-tolperte über einen s-pitzen S-tein," sagte Friederike ganz unvermittelt.

"Wie bitte?" fragte Jesus verwirrt.

"Er s-tolperte über einen s-pitzen S-tein," wiederholte Friederike.

"Was rührt uns das Vorhin," wies Karl Friedrich sie zurecht. "Wo aber ist Onkel Otto jetzt, zu dieser Minute?"

"Der Hinweis meiner Magd Friederike kann unter Umständen auch das Jetzt erhellen," sagte Jesus nachdenklich. "Und wo, sag mir, s-tolperte Onkel Otto, mein Knecht, über jenen s-pitzen S-tein?"

"Dort, jenseits der Wegbiegung," antwortete Friederike artig und deutete nach rückwärts.

"So wollen wir denn unseren Gefallenen suchen," sagte Jesus und schickte sich an, den Weg, den sie gekommen, zurückzuwandeln.

Und siehe - kaum hatten sie die Wegbiegung in rückwärtiger Richtung genommen, als auch schon der bäuchlings auf dem Boden liegende Onkel Otto sich ihren Blicken offenbarte. Zu seinen Füßen aber erkannten sie den s-pitzen S-tein, über den er so jählings gestolpert.

"Auf der Stirn hat er eine große Beule," sagte Jesus, der sehr gute Augen hat.

"Sicher lag weiter vorne noch ein zweiter s-pitzer S-tein, auf den er draufgefallen," vermutete Karl Friedrich und blinzelte.

Solcherart ihre Mutmaßungen, Beobachtungen und Erkenntnisse austauschend, näherten sie sich unbeirrt Onkel Ottos Liegeplatz.

"Er stöhnt," sagte Friederike, die sehr gute Ohren hat.

"Er ist betrunken," bemerkte Karl Friedrich, der für seine gute Nase bekannt ist.

"Du sagst es," bestätigte Jesus und schnupperte.

Nun waren alle glücklich wieder beisammen. Die auf den Beinen gebliebenen aber bastelten aus Zweigen und Ästen eine Bahre; und da legten sie Onkel Otto drauf und trugen ihn dem Jesus so lange nach, alsbis er wieder solcherart zu Kräften kam, daß er sich von alleine weiterbewegen konnte.

© Raymond Zoller