Die Klamurke Belletristik

Drangsal im Dringsal




Drangsal hieß Drangsal, weil auch sein Vater so geheißen hat. Den Dringsal aber nannte man zu früheren Zeiten Trinksaal; doch durch die häufige Benutzung im Laufe der Jahre nutzte sich das „trink“ zu „dring“ ab; und so wurde aus dem Trinksaal ein Dringsal.

Im Dringsal servierte einstens die Beate; und weil die Beate dort servierte, konnte man den Drangsal fast jeden Abend an jenem Orte antreffen. Denn er mochte die Beate sehr, und es gelüstete ihn nicht wenig, sie zu heiraten.

Beate ihrerseits mochte fast alle, denen sie im Dringsal den Wein kredenzte und die ihr dabei in den Ausschnitt guckten und in den Hintern kniffen; alle mochte sie, außer den Drangsal. Denn Drangsal wollte sie für sich ganz alleine haben, und Beate wollte niemandem ganz alleine gehören, sondern allen; und deshalb mochte sie ihn nicht.

Wenn sie Drangsal den Wein brachte, so guckte er ihr weder in den Ausschnitt, noch kniff er sie in den Hintern, sondern schaute sie nur aus großen Augen traurig an; und das konnte sie nicht ab.

Später zog Beate dann in die Stadt, kredenzte Wein in einem Café und später in einer Bar, wo sie sich von neuen Gästen in den Ausschnitt gucken ließ, aber nicht mehr in den Hintern kneifen, denn in der Stadt sind die Leute intellektueller als auf dem Dorf und kneifen den Serviererinnen nicht in den Hintern. Und in jener Bar konnte man alsbald schon nicht bloß ihr in den Ausschnitt gucken, sondern zuschauen, wie sie sich richtig auszog; und ganz splitternackt war sie zum Schluß. Denn in der Stadt dürfen die Kellnerinnen sich ausziehen; Stripties nennt man sowas, und sie bekam dafür Sonderzulagen, welche es ihr erlaubten, nach Mallorca in Urlaub zu fahren.

Drangsal aber blieb im Dorfe zurück, ließ sich Abend für Abend, Monat für Monat, Jahr für Jahr im Dringsal von immer neuen Serviererinnen, denen man in den Ausschnitt guckte und in den Hintern kniff, Wein kredenzen und gedachte traurig seiner verschwundenen Beate; und wie er sich dann, zehn Jahre nach Beates Verschwinden, erstmals dazu aufraffte, gleich allen andern der sich über seinen Tisch neigenden Kellnerin in den Ausschnitt zu gucken, da richtete diese sich abrupt auf und verengte mit grimmer Miene das Panorama ihres Dekolleté; und wie er ihr dann, gleich allen andern, in den Hintern kniff, da gab sie ihm eine Ohrfeige.

Drangsal zog es vor, seiner Gewohnheit entsprechend auch weiterhin davon abzusehen, den Kellnerinnen in den Ausschnitt zu gucken und in den Hintern zu kneifen, ließ sich weiterhin jeden Abend im Dringsal Wein kredenzen und ergab sich, traurig an die Decke starrend, dem verblassenden Bild der verschollenen Beate.

Und nach vielen Jahren starb er dann und wurde ein paar Tage später beerdigt.




© Raymond Zoller