Die Klamurke Belletristik

Der Dackel

Letzten Samstag, kurz nach dem Mittagessen, schnitt Onkel Otto seinem Dackel das linke Ohr ab und legte sich dann ins Bett, um seinen Mittagsschlaf zu halten.

Ein Nachbar aber, der Onkel Otto Böses wollte, hatte ersteren Vorgang durchs Fenster beobachtet und benachrichtigte den Tierschutzverein; und selbiger alarmierte sofort die Polizei.

Die Polizei kam, weckte Onkel Otto aus seinem Mittagsschlaf und befragte ihn nach dem Vorfall mit dem Dackel.

Onkel Otto bestätigte, daß alles genau so gewesen ist, wie der Nachbar es geschildert hat; nur belehrte er die Polizisten, daß nirgendwo im Gesetze geschrieben steht, es sei verboten, einem Dackel das linke Ohr abzuschneiden.

Die Polizisten gaben die Belehrung an den Tierschutzverein weiter und gingen nach Hause. Der Tierschutzverein aber wälzte drei Tage und drei Nächte dicke Gesetzesbücher; und in der Tat: ein Gesetz, welches bei Dackeln das Abschneiden des linken Ohres verbieten würde, war nicht zu finden.

Am vierten Tage aber schnitt Onkel Otto seinem Dackel auch das rechte Ohr ab.

Wieder verständigte der Tierschutzverein die Polizei. Doch die Polizisten winkten ab: "Wenn es kein Gesetz gibt, welches bei Dackeln das Abschneiden des linken Ohres verbietet, so gibt es sicher auch keines, das sich in ähnlicher Weise auf das rechte Ohr beziehen würde." Womit sie, die Sache als erledigt betrachtend, nach Hause gehen wollten. Der Tierschutzverein aber hielt ihnen triumphierend ein Gesetzesbuch unter die Nase und zeigte auf eine Stelle, auf der schwarz auf weiß zu lesen stand, daß es verboten ist, Dackeln die Ohren abzuschneiden.

Nun durften die Polizisten nicht mehr nach Hause gehen, sondern mußten sich um Onkel Otto kümmern. Was sie auch taten.

Onkel Otto aber belehrte sie, daß er keineswegs seinem Dackel die Ohren abgeschnitten hat. Das linke Ohr habe er ihm abgeschnitten; doch sei das ja nicht verboten; und später habe er ihm das rechte Ohr abgeschnitten; und auch das sei nicht verboten. Wer aber behaupte, er habe seinem Dackel die Ohren abgeschnitten, der mache sich übler Nachrede schuldig und müsse mit einer Anzeige rechnen.

Die Polizisten, die an jenem Tag schon sehr viel gedacht hatten und furchtbar erschöpft waren, gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden. Sie leiteten sie an den Tierschutzverein weiter und durften dann nach Hause gehen.

Der Tierschutzverein aber verfiel in tiefes Sinnen; und da er trotz heftigen Nachdenkens zu keiner Lösung kommen konnte, übergab er die Sache einem Rechtsanwalt.

Letztendlich wird nun der Richter entscheiden müssen, ob Onkel Otto seinem Dackel das linke Ohr abgeschnitten hat und das rechte, oder aber ob er ihm die Ohren abgeschnitten hat.

Auf dieses Urteil, das sicher Grundsatzcharakter haben wird, dürfen wir gespannt sein.

© Raymond Zoller