Die Klamurke Belletristik

Von Welterrettern und sonstigen Persönlichkeiten

Ein Auflösen gewohnter Gedankenkonstrukte und vertrauter Sichtweisen ist in den Anfangszeiten, da man solche Zerstörungsarbeit auf sich nimmt, vergleichbar einem kleinen Weltuntergang. - Später, wenn man sich daran gewöhnt hat und das Auflösen zur Routine wurde, verliert die Sache ihre Dramatik; das läuft dann bloß noch darauf hinaus, daß man die Dinge von verschiedenen Seiten her betrachtet.
Wer sich aber damit begnügt, Gewohntes treu zu behüten, dem bleiben solche Weltuntergänge und Veränderungen zunächst erspart und treten erst dann ein, wenn man ihm von außen den Teppich unter den Füßen wegzieht.
(Wilhelm von Dorten)

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„Das ist alles ganz einfach“, sagte Renata. – "Das durchmechanisierte Sozialgefüge nimmt mit seinen maschinenhaften Greifern und Bändern die einen in sich auf, andere stößt es zurück oder scheidet sie als unbrauchbar aus. Aufgenommen und automatisch eingebaut werden vornehmlich die Schwächsten, die am wenigsten durch eigene Gedanken, eigenes Wollen, eigene moralische Sicht die Mechanik in ihrem glatten Funktionieren stören. Nach und nach baut diese seelenlose Mechanik vollautomatisiert eine Oligarchie aus geistig und moralisch minderwertigem Gesindel in sich ein; und diese Oligarchie wird sie über den Rest der Menschheit, als ein riesiges Sklavenheer, herrschen lassen; ohne daß die Herrschenden merken, daß nicht sie die Macht haben, sondern der Mechanismus. Die Herrschenden werden ihren Vergnügungen nachgehen; und sollte sich bei wem das Gewissen regen und Ekel breitmachen, so wird er vollautomatisch ausgeschieden und durch jemand geeigneteres ersetzt.“

„Diese Tendenz ist nicht zu übersehen…“, antwortete Krüggelmeier.

„Inzwischen ist sie für einige schon sichtbar. Aber das zeichnet sich schon seit langem ab. Sogar du siehst sie. Aber du siehst sie noch nicht deutlich genug.“

„Warum meinst du, ich sehe sie noch nicht deutlich genug?“

„Daß du es nicht deutlich genug siehst ersieht man unter anderem daraus, daß du die Lage durch agitatorisch verbreitete Programme retten möchtest.“

„Was soll daran schlecht sein?“

„Es ist nicht schlecht, aber es nützt nichts. Um die Lage im Großen zu retten braucht es wache Zeitgenossen, die in der Lage sind, in bewusstem freiem Zusammenwirken lebendige soziale Strukturen zu schaffen." – Renata zündete sich eine Zigarette an. – "Ich meine das übrigens real und nicht als fromme Floskel. Doch Menschen mit genügender Wachheit fehlen oder sind zumindest zu wenig zahlreich. Programme schaffen nur neue Mechanismen, die sowieso gegen die bestehenden nicht ankommen können; und die selbst dann, wenn sie sich an deren Stelle setzen können, nur den alten Unfug in anderer Form weiterführen. Die Menschen haben zu lange geschlafen; erst jetzt beginnen einige, sich die Augen zu reiben. Man merkt kurz auf, gründet schnell eine Partei oder einen Verein oder eine Sekte mit trefflichem pragmatischem Programm, auf dem man dann getrost weiterschlafen kann.“

„In bewusstem freiem Zusammenwirken lebendige soziale Strukturen… Verrückte Ideen hast du. Lebendige soziale Strukturen… Die sich in ihrer Lebendigkeit unkontrolliert jeden Moment ändern können…"

"Unkontrolliert in Bezug auf wen? Auf dumpfe Bürokraten? Parteifunktionäre? Die alles messen an dem, was schon da ist und Entwicklung als Todsünde betrachten? Kontrolliert würde die Entwicklung durch unmittelbar beteiligte wache Menschen. Doch mach dir keine Sorgen – die Wachheit für das Aufkommen solcher Strukturen ist großflächig nicht vorhanden; von dieser Seite droht der Sozialmechanik keine Gefahr. Abgelöst werden kann sie höchstens durch strukturloses wildes Chaos."

"Und wie willst du die Menschen zu der nötigen Wachheit bringen?"

"Kann ich gar nicht. Und – vor allem nicht durch Agitation. Jeder Einzelne muß für sich aufwachen; ganz ohne fromme Phrasen und Programme. Wem seine altvertrauten Gewohnheiten und Sichtweisen Unbehagen verursachen, wer merkt, daß irgendwas nicht stimmt und beginnt, Altvertrautes und Gewohntes lebendig zu hinterfragen – der ist auf dem Weg des Aufwachens. In sich selbst zerschlagen, was einen hemmt und der Welt entfremdet. Seine eigene Blödheit aufspüren. Aufrütteln zu solcher Entwicklung können nur solche, die selbst diesen Weg gehen, als ganze Menschen. Ob mit Breitenwirkung oder nur in ihrer unmittelbaren Umgebung; egal. Rein im Kopf kann man nur neue tote Programme schaffen. Wie kann man für eine bessere Welt kämpfen, wenn man im Grunde seiner Seele der alte Spießer bleibt? Wenn die Menschen nicht ihre eigene Spießerwelt in sich zerschlagen und in die Lage kommen, organisch sich entwickelnde Gemeinschaften zu bilden, wird man auch mit den besten Programmen nur durchmechanisierte Spießergemeinschaften schaffen mit unerträglichen Lebensbedingungen, die in unregelmäßigen Abständen in immer grandioser werdenden Untergangsszenarien zusammenbrechen.“

„Du meinst also, alle sollen nur herumhocken und in sich hineinbrüten?“

„Wieso herumhocken und in sich hineinbrüten? Lebendig sich in der Welt bewegend in sich aufräumen und den Mist ausfegen, der einen der realen Welt entfremdet. Sich mit eigenen Gedanken, eigener Einsicht in die Welt stellen und nicht mit den unhinterfragten Ergüssen des Spießertums und eigener Bequemlichkeit.“

„Immer schön um sich selbst kreisen“, zuckte Krüggelmeier die Achseln.

„Jedem Tierchen sein Pläsierchen“, lachte Renata.

„Und nimmst alles auf die leichte Schulter“, grinste Krüggelmeier. „Lachst sogar darüber, wenn man nicht mit dir einverstanden ist.“

„Ich weiß, was ich sage; und durch Beifall oder Ablehnung wird das nicht berührt.“

„Und unbescheiden bist du. Sehr unbescheiden.“

Renata nickte belustigt. Sie hätte Krüggelmeier sagen können, daß er selbst nur deshalb zu streiten pflegt, weil er seiner Sache nicht sicher ist und deshalb Ablehnung als Angriff empfindet. Aber sie hatte keine Lust zu streiten.

„Ich will nichts im Großen verändern“, sagte sie versöhnlich. „Ich will bloß leben und meinen Plausch haben.“

So ganz stimmte das nicht; aber alles darüber hinaus hätte Krüggelmeier nicht verstanden.

Und fügte noch hinzu:

„Ich verbeiß mich nie in Dinge, die ich nicht ändern kann, und beschränke mich auf die mir zugänglichen Aufgaben, die das Leben mir von Tag zu Tag stellt. Und Dingen, die mir ärgerlich scheinen, an denen ich aber nichts ändern kann – versuch ich, die lustigen und komischen Seiten abzugewinnen.“

Sie zupfte ihr Décolleté zurecht.

„Du siehst heute so anders aus“, sagte Krüggelmeier. „Hast du was vor?“

„Ich geh nachher in die Violette Auster“, antwortete Renata.

„In jenen Nachtclub? Hat jemand dich eingeladen? Wußte nicht, daß die am hellichten Tag geöffnet haben.“

„Niemand hat mich eingeladen. Man hat mich vorgeladen.“

„Das klingt so amtlich. Seit wann kann die Violette Auster jemanden vorladen?“

„Nicht die Violette Auster hat mich vorgeladen; die Vorladung habe ich vom Arbeitsamt. Ich soll dort vortanzen.“

„Auf dem Arbeitsamt sollst du vortanzen?“

„Nicht auf dem Arbeitsamt. In der Violetten Auster. Auf dem Arbeitsamt ist man zu dem Schluß gekommen, daß ich als Stripperin geeignet bin, und will mich deshalb an die Violette Auster verschachern.“

„Aber das ist doch Menschenhandel!“

„Natürlich ist es Menschenhandel. Doch mit Menschen wird schon seit langem gehandelt; bloß merkt man es meist nicht.“

„Mit dem gleichen Recht könnte man dich ins Puff stecken…“

„Das Abschieben ins Puff ist noch nicht salonfähig. Kommt aber sicher noch, wenn der Sklavenstatus deutlicher gegenüber dem Herrenstatus abgegrenzt ist.“

„Und du nimmst das einfach so hin…. Findest es vielleicht sogar interessant…“

„Natürlich interessant“, lachte Renata. „Das Vortanzen ganz sicher; bin gespannt, wer sich das anschaut und meine körperlichen Gegebenheiten und tänzerische Fähigkeiten beurteilen wird. Und dann die Auftritte…. Sicher eine interessante Erfahrung, vor diesen Horden besoffener und verkiffter Herrenmenschen allabendlich die Hüllen fallen zu lassen.“

„Solltest besser verdreckt und in zerschlissenen Ökoklamotten hingehen“, sagte Krüggelmeier. „Dann besteht eher die Chance, daß sie dich nicht nehmen.“

„Wenn sie mich nicht nehmen, läßt das Arbeitsamt sich eine andere Gemeinheit einfallen. Ich will, daß sie mich nehmen; dann habe ich erst mal meine Ruhe. Als Journalistin oder Redakteurin will man mich ja nicht.“

„Weil die Gedanken, die du niederschreibst, immer so weit weg sind von dem, was gebraucht wird. So weit weg, daß viele nicht verstehen, was du meinen könntest. Und weil dein Stil mit keinem anerkannten Stil vergleichbar ist,“ sagte Krüggelmeier.

„Du meinst, wenn ich Kompromisse machen würde, könnte ich Aufnahme finden in der Herrenmenschenriege? Aber ich will nicht zu den erfolgreichen Herrenmenschen und will keine Kompromisse mehr machen. Ehe ich in allgemein anerkannter Sprechweise allgemein anerkannten Blödsinn wiederkäuend an der weiteren Verblödung meiner Zeitgenossen teilhabe, entblöß ich lieber als Arbeitsamtsklavin vor besoffenen Herrenmenschen meinen Körper. Sollen sie ihren Plausch an mir haben.“

„Wie du meinst,“ antwortete Krüggelmeier zerstreut. „Ich hoffe, du wirst dann noch Zeit finden, unsere Texte zu redigieren.“

„Wenn es euch nicht stört, eure Werke von einer Stripperin redigieren zu lassen – warum nicht“, antwortete Renata. „Ich muß los, zum Vortanzen. Bis später.“

***

Krüggelmeier war Vorsitzender einer weltanschaulichen Organisation, die eine eigene Zeitung herausgab. Renata hatte man mit der ehrenamtlichen Redigierung der zu veröffentlichenden Texte betraut.

Sie fand es lustig, wie die leitenden Mitglieder jener Organisation alle so sehr in abgesicherten Verhältnissen lebten und sich so sehr in ihren Wohlstand verbarrikadiert hatten, daß sie die Welt, die sie verbessern wollten, nur vom Hörensagen kannten und aus der Zeitung. Ganz zu Anfang hatte Renata selbst nicht gemerkt, wie wenig die von sich und der Welt wußten; und als sie dann anfing, es zu merken, wurde es ihr vorübergehend sogar zum Ärgernis.

Wie sie dann aber deutlich genug sah, mit wem sie es zu tun hat, nahm sie die Sache – wie alles durchschaute Ärgerliche, das sie nicht ändern konnte – von der komischen Seite.

Krüggelmeier selbst hatte von seinen Eltern mehrere Mietshäuser geerbt und ein großes Vermögen. Da er gute Kontakte hatte und Erfahrung im Umgang mit Fonds war es ihm gelungen, für die Organisation die Finanzierung eines Vereinslokals aufzutreiben. Als Vereinslokal diente eine Wohnung in einem der Krüggelmeierschen Mietshäuser, und der Fonds zahlte regelmäßig die Miete. Und auch die Herausgabe der Zeitung wurde durch einen gemeinnützigen Fonds finanziert.

Für die Finanzierung von Mitgliedern, die sich arbeitsmäßig einbrachten, blieb natürlich nichts übrig; und Krüggelmeier betonte bei jeder Gelegenheit, daß auch er selbst ehrenamtlich arbeitet und nicht finanziert wird.

Woran niemand zweifelte.

Renata fand all dies ausgesprochen amüsant; sagte aber niemandem, daß sie es amüsant findet. Daß die Organisation irgendwas Sinnvolles erreichen könnte, hielt sie für ausgeschlossen; aber sie war da reingerasselt, die Arbeit ließ sich nebenbei erledigen, und sie betrachtete es als vergnügliches Studium der Sitten und Gebräuche ihrer Zeitgenossen.

Daß man hier keinen Unterschied machte zwischen ehrenamtlichen Mitarbeitern, die finanziell abgesichert sind und solchen, die nicht finanziell abgesichert sind, wunderte sie weiter nicht. Sie wusste, daß man im Allgemeinen durchaus den Unterschied zwischen Begüterten und Unbegüterten berücksichtigt; denn wie jeder brave Bürger, ob er nun etwas retten will oder ob er einfach so vor sich hin lebt, maß man ganz selbstverständlich den Wert eines Menschen am Umfang seiner finanziellen Mittel. Auch dies fand Renata weiter nicht verwunderlich; und sie wunderte sich auch nicht darüber, daß den Leuten die Kriterien, nach denen sie ihre Mitmenschen beurteilen, nicht einmal bewußt waren.

Bei Krüggelmeier und seinen leitenden Mannen sah Renata genau die gleiche Sklavenhaltermentalität wie bei den Leuten vom Arbeitsamt, die sie an die Violette Auster verschachert hatten. Und bei denjenigen, die sich fügten und meinten, das sei alles richtig so – die gleiche Sklavenmentalität wie überall ringsum; alles nur in milieuentsprechenden Metamorphosen.

Trotz allem äußeren Fortschrittsgebaren waren diese Leute am Grunde ihrer Seelen durch und durch bürgerlich; bloß merkten sie es nicht, weil sie es verschmähten, ihre eigenen Seelen näher in Augenschein zu nehmen, und sich damit begnügten, den anderen zu sagen, was sie zu tun und zu denken haben.

Renata hatte alles durchschaut. Sie war bewußt Sklavin. Der Macht von Krüggelmeier und seinen Mannen hätte sie sich entziehen können; aber sie blieb dabei, weil sie Spaß daran fand, die Leute in einer sich fortschrittlich gebenden Metamorphose der Bürgerlichkeit zu beobachten.

Der Macht des Arbeitsamts wird sie sich nicht entziehen können. Aber sie wird bewußt Stripperin sein, wird bewußt die lustigen und interessanten Seiten ihrer Erniedrigung studieren; neue Menschen wird sie kennenlernen und neue Metamorphosen des gutbürgerlichen Wegs zum Großen Zusammenbruch studieren.

***

Und wie sie dann eines Abends in der Violetten Auster die Bühne betrat zu ihrem ersten Auftritt, da gewahrte sie ganz vorn an einem Tische Krüggelmeier im Kreise der leitenden Mitarbeiter seiner welterrettenden Organisation.

Dies hat sie so sehr amüsiert, daß sie voll in ihrem Tanze aufging und brausenden Beifall erntete.

Ins Land des Lasters

© Raymond Zoller