Die Klamurke Belletristik

Zwischenfliege

Im schatten der Ulme

Dort, wo im gleißenden Lichte der Sonne sich badend das Hochplateau der sieben Küken nachträumt dem Taue der Nacht und sich dankbar erinnert der feuchten Labe, die am Morgen im wärmenden Strahle des lebensspendenden Gestirns sich verflüchtigend Platz machte den Segnungen des Tages, - stand im kühlenden Schatten einer Ulme ein junger Mann und rauchte eine Zigarette.

Hätten wir zehn Minuten früher den Blick zu dieser Ulme gelenkt, so hätten wir eine Maus gesehen, die geschäftig zwischen den Wurzeln hin und her huschte und irgendeiner uns unverständlichen Arbeit nachzugehen schien; und ein Eichhörnchen hätten wir gesehen, welches flink den Ulmenstamm hinauflief und dann wieder hinunter, als habe es etwas vergessen; und, kaum daß es unten angelangt, wieder hinauflief; und hätten wir den Blick dann gen Osten gewandt, dorthin, wo das Krakheanum liegt, so hätten wir diesen jungen Mann gemächlich schlendernd herankommen sehen; ohne Eile, aber doch zielstrebig und unbeirrt. Wie er näherkam verschwand die Maus in irgendeinem Loche zwischen den Wurzeln; das Eichhörnchen, das inzwischen bereits zum siebten male rauf und wieder runter gelaufen war, zog sich zurück in den dichtesten Wipfel und war nicht mehr zu sehen.

Der junge Mann trat in den Schatten der Ulme, steckte sich eine Zigarette in den Mund und begann zu rauchen.

Zehn Minuten später stand er immer noch da; unbeirrt rauchend. Schon nicht mehr die gleiche Zigarette rauchte er; eine andere war's; die erste, die er sich angezündet, war längst aufgeraucht und lag als zertretene Kippe zu seinen Füßen auf der schattigen Erde.

Was er wohl suchte, der einsame junge Mann, im Schatten der Ulme?

Aus seinem Äußeren ergeben sich keinerlei Hinweise. 25 Jahre mag er alt sein; vielleicht auch 45; schwer zu sagen, wie alt genau. Seine Kleidung unterscheidet sich durch nichts von der Kleidung anderer junger Männer, die 25 oder 45 Jahre alt sind; das gleiche Hemd, die gleiche Hose, die gleichen Sandalen. Eine Jacke trägt er nicht; doch in Anbetracht der Hitze müssen wir davon ausgehen, daß auch jemand anders an seiner Stelle keine Jacke tragen würde. Die Zigaretten dreht er sich selber; und zwar - und hier treffen wir erstmals auf eine individuelle Besonderheit - offenbart er hierbei eine außergewöhnliche Ungeschicklichkeit. Noch nie hab ich jemanden gesehen, der so ungeschickt seine Zigaretten dreht! - Auffallend auch, daß er einen schwarzen Aktenkoffer bei sich hat. Was will er mit einem Aktenkoffer in dieser Abgeschiedenheit? Wir wissen es nicht; aber deutlich ist doch, daß er sich hierin von jeglichem anderen unterscheidet, der in drückender Julihitze auf dem Hochplateau der Sieben Küken den Schatten einer Ulme aufsuchen würde. Dieser hätte keinen Aktenkoffer dabei gehabt; ganz sicher nicht. Denn was soll er damit? An einem heißen Julitag allein im Schatten einer Ulme? "Was soll ich einen Aktenkoffer mitnehmen?" würde jeder andere an seiner Stelle sagen. "Was soll ich damit? Besser, ich gehe ohne."

Den Aktenkoffer hielt er fest in der Hand; und nur, wenn er sich eine Zigarette drehte, stellte er ihn vorsichtig ab; genau neben den rechten Fuß; und wenn die Zigarette gedreht und angezündet war, nahm er ihn sogleich wieder zur Hand.

Also stand er lange, sehr lange; und jedesmal, wenn er sich eine neue Zigarette drehte, stellte er seinen Aktenkoffer neben seinen rechten Fuß; und war sie gedreht und angezündet, so nahm er ihn wieder in die Hand. Einmal, nachdem er schon sehr lange gestanden, öffnete er ihn; aber nur, um ihm ein Päckchen Tabak zu entnehmen. Offenbar war das alte aufgebraucht. Was er außer dem Tabak noch in der Tasche hatte, war nicht zu sehen, da er sie sofort wieder zumachte.

Die Sonne verschwand als Feuerball im fernen Westen; langsam kroch der Mond aus seinen dunklen Grotten am nächtlichen Himmel.

Und plötzlich, ganz plötzlich - setzte der junge Mann sich in Bewegung. Zielstrebigen Schrittes, den Aktenkoffer in der Rechten, ging er den Weg zurück, den er gekommen und entschwand alsbald schon unseren Blicken.




© Raymond Zoller