Die Klamurke Belletristik

Silvia und die Weihnachtsmänner

Ob Weihnachtsmänner Silvia erotisch anzogen, weiß ich nicht.

Ich weiß nur, daß sie eine Schwäche für sie hatte.

Jedes Jahr, wenn die Weihnachtszeit heranrückte und in den Städten die Straßen und Plätze sich mit Weihnachtsmännern bevölkerten, schlich Silvia, unter langem Mantel in offenherziger Kleidung und bewaffnet mit Schnur und mit Fotoapparat, durch die nächtlichen Straßen unserer Stadt. An schlecht beleuchteten Stellen, wo häufig Weihnachtsmänner vorbeikamen, band sie die Enden der Schnur irgendwo fest, so daß sie, zwei bis drei Handbreit über der Erde, sich über die ganze Breite des Gehwegs dahinzog, und wartete. Kamen harmlose Passanten daher, so warnte sie vor dem Hindernis, und wenn nötig half sie ihnen, darüber hinwegzusteigen. Nahte sich aber ein Weihnachtsmann, so öffnete sie den Mantel und lehnte sich, locker ihre Formen betonend, an die Wand oder an einen Laternenpfahl.

Solcherart abgelenkt übersah der Weihnachtsmann die Schnur, stolperte und fiel hin.

Silvia zückte sodann ihren Fotoapparat und knipste den gestolperten Weihnachtsmann von allen Seiten. Diese Fotos klebte sie in Fotoalben, wo sie, chronologisch geordnet, die durch sie zu Fall gebrachten Weihnachtsmänner dokumentieren, und besonders gelungene Bilder hängen vergrößert und gerahmt an der Wand ihres Arbeitszimmers. In den Fotoalben stehen, außer Datum und Uhrzeit, noch verschiedene erläuternde Bemerkungen wie: Fuß verstaucht; Brille gebrochen; originelles Fluchrepertoire; und ähnliches.

Auch ich bin in ihrem Archiv verewigt: Als Weihnachtsmann. Früher nämlich arbeitete ich ab und zu als Weihnachtsmann, um mein spärliches Budget etwas aufzubessern. Und so kam es, daß ich eines Tages über ihre Schnur stolperte. Da ich sehr sportlich bin, war ich sofort wieder auf den Beinen und, noch bevor sie hätte entweichen können, packte ich sie. Auf diese Weise lernten wir uns kennen. Sie war so erschrocken, daß sie mir auf meine Frage sofort Namen und Adresse nannte. Oder vielleicht war sie auch nicht erschrocken; vielleicht war das genau die Variante, die sie sich von Anfang an ersehnte. Denn manches spricht dafür, daß Weihnachtsmänner sie tatsächlich erotisch anzogen...

Aus irgendwelchen Gründen habe ich sie kurz nach diesem Zwischenfall geheiratet. Was wohl nicht unbedingt hätte sein müssen.

Doch zum Glück sind wir inzwischen wieder geschieden. Nach unserer Scheidung zog sie in eine andere Stadt; wo zunächst drastisch die Statistik der stolpernden Weihnachtsmänner anstieg. Das normalisierte sich bald wieder; doch dafür begannen plötzlich die Polizisten hinzufallen.

Was ja verständlich ist, da es - im Gegensatz zu Weihnachtsmännern - Polizisten das ganze Jahr über gibt.

© Raymond Zoller