Die Klamurke Belletristik

Zwischenfliege

Der Raub der Sabine

Laß dich nicht, lieber Leser, beflügelt durch solch verheißungsvollen Titel, zu der trügerischen Hoffnung hinreißen, du dürftest im Nachfolgenden Zeuge sein, wie man die Sabine raubt und wer weiß was alles mit ihr anstellt. Keineswegs wird die Sabine geraubt; unbeirrt bleibt sie auf freiem Fuße und genießt die Ungebundenheit ihres Daseins.

'Doch wieso,' magst du, lieber Leser, fragen, 'spricht man dann vom Raub der Sabine, wenn die Sabine gar nicht geraubt wird? Solches ergibt doch, wie mir scheint, keinerlei Sinn? Oder?'

'Oder könnte damit etwa gemeint sein,' mag ein besonders scharfsinniger Leser sich einmischen, 'daß der Raub in diesem Falle nicht auf die Sabine als sein Objekt sich bezieht, sondern, im Gegenteil, eine Tat zum Ausdruck bringt, die auf Sabine als Täterin zurückgeht? Daß man uns den Hergang einer Tat schildern wird, die Sabine raubend begangen; oder aber einen Gegenstand vorführt, den sie durch Raub an sich gebracht? Könnte das sein?'

Im Prinzip schon. Warum soll die Sabine, nachdem man schon gedacht, sie sei geraubt worden, im Gegengewicht hierzu nicht selbst etwas rauben? Eine solche Vermutung scheint keineswegs abwegig.

Und doch trifft auch sie nicht den Kern der Sache.

Wer nämlich das Wort 'Raub' näher ins Auge faßt, der wird sehen, daß es verwandt ist dem Wort 'Raupe'; und es kann kein Zweifel bestehen, daß sich ein Dialekt entdecken oder zumindest erfinden lassen könnte, in welchem das Wort "Raub" eine raupenförmige Stola bezeichnet, welche die Dame, die solchen Dialekt spricht, sich als Zierde um den Hals legt.

Um eine solche Dame aber handelt es sich bei Sabine; und ihr Raub ist nichts anderes denn jene raupenförmige Stola, mit der sie sich ziert.

Hier mag nun der Leser von seinem Sitze aufspringen und protestieren: 'Ist es denn aber nicht verfehlt,' mag er entrüstet fragen, 'eine solch außergewöhnliche Frau, die einen Dialekt spricht, den man erst noch erfinden muß und die einen Raub um den Hals trägt, einfach so frei herumlaufen und unbeschwert in den Tag hinein leben zu lassen? Bist du, o Dichter, denn plötzlich zum Modejournalisten verkümmert, der sich damit begnügt festzustellen, daß diese ein ausgeschnittenes Modellkleid von Chardin*, jene einen Raub trägt und es einfach so dabei bewenden läßt? Wahrlich, wahrlich, tief bist du gesunken...'

An dieser Stelle aber bleibt dem Dichter nichts anderes übrig, als zerknirscht seinen Fehler zu bekennen und feierlich Besserung zu geloben.

Und so kommt es, daß du, lieber Leser, im Nachfolgenden nun aus allernächster Nähe mitverfolgen darfst, wie die Sabine geraubt wird; wie sie gleichzeitig aber auch selber raubt und wie sich um den einen wie den andern Raub, gewissermaßen als zusammenhaltende Synthese, der Raub windet, den sie um ihren Hals trägt.

(Fortsetzung folgt.)

*)Ich hoff, daß ich diesen Zwischenruf richtig verstanden habe. Sollte sich herausstellen, daß Chardin in Wirklichkeit keine Modellkleider entwirft, sondern vielleicht Parfümfabrikant ist oder sonstwas in der Richtung, so bedeutet das, daß ich mich verhört habe und daß man in Zukunft gefälligst deutlicher zwischenrufen soll...

© Raymond Zoller