Die Klamurke Belletristik

Am Fuße der Treppe

Lorino schippte den Schnee von der Treppe; und auf dem Eise, welches sich heimtückisch unter der Schneedecke gebildet hatte, rutschte er aus und stürzte nach unten.

Am Fuße der Treppe ward durch den Schnee, den er nach unten geschippt hatte, sein Fall weich aufgefangen; doch hatten die vom Schnee befreiten Kanten der Treppenstufen seinem Haupte und seinem Körper in solchem Maße bereits zugesetzt, daß die Wohltat der weichen Landung sich seinem Bewußtsein entzog, alsda letzteres auf dem Wege zum Fuße der Treppe sich zunehmend aus dem geschundenen und geschlagenen Körper zurückgezogen hatte und zu dem Moment, da dieser zum Stillstand kam, nicht mehr vorhanden war.

So lag er, des Bewußtseins beraubt, am Fuße jener Treppe; bis Friederike vorbeikam. Als Friederike vorbeikam hatte er zwar schon lange gelegen; jedoch noch nicht so lange, wie man normalerweise braucht, um beim Liegen im Schnee sich eine Lungenentzündung zu holen oder zu erfrieren.

Friederike kam und sah Lorino liegen; und wie sie ihn so liegen sah, da dachte sie, er wolle ausruhen. Nämlich war allen Freunden und vor allem Friederike bekannt, daß Lorino zur Faulheit neigt und daß er, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, sich hinlegt und ausruht. Es fiel ihr ein der Sonnenbrand, den er sich letzten Sommer geholt hatte, als er sich beim Heuwenden zum Ausruhen niedergelegt und fünf Stunden ununterbrochen in der prallen Sonne geschlafen hatte; und der Schnupfen fiel ihr ein, den er sich im Herbste geholt hatte, als er gefallenes Laub beiseitefegen sollte und sich zum Ausruhen in einen Laubhaufen gelegt hatte, wo er sechs Stunden in einem Forte schlief; und auch andere Gelegenheiten kamen ihr in den Sinn, da Lorino auf diese oder jene Weise Opfer seines Ruhebedürfnisses wurde; und sie schüttelte den Kopf ob der merkwürdigen Schicksalslinie, die das Leben dieses vor ihr liegenden Menschen zu durchziehen schien.

Doch wie hätte sie ahnen können, daß jene Schicksalslinie vor wenigen Wochen abrupt unterbrochen wurde; daß Lorino, den ein merkwürdiges Schicksal bislang immer wieder zum Opfer seines Ruhebedürfnisses hatte werden lassen, auf einen Schlag jeglichen Ruhebedürfnisses beraubt wurde und seitdem von einem nicht minder unüberwindlichen Fleiße beseelt war; ein Fleiß, dem er, gleich vorher seinem Ruhebedürfnis, in den wenigen Wochen seit seinem Ausbruche in den vielfältigsten Weisen zum Opfer gefallen war und dem er so manches schmerzensreiche Erlebnis verdankte.

"Vielleicht sollte man ihn ins Bett legen," dachte Friederike. "Als er auf dem feuchten Laube schlief, hat er sich einen Schnupfen geholt. Im Schnee kann er sich gar eine Lungenentzündung holen."

Also dachte Friederike. Doch wie sollte sie den siebenundachtzig Kilo schweren Lorino aufheben und ins Bett bringen? Da war guter Rat teuer. - "Siebenundachtzig Kilo," dachte Friederike, "Siebenundachtzig Kilo - das ist mehr als anderthalb Zentner; und wäre er nur noch ein Pfund schwerer, so wären es gar ein und dreiviertel..." Woher Friederike mit solcher Genauigkeit das Gewicht von Lorino kannte, bleibt ungewiß; doch unabhängig davon wird jeder zugeben, daß man von einer kleinen und schwachen Frau nicht verlangen kann, einen 87 Kilogramm schweren Schläfer ins Bett zu tragen.

"Vielleicht sollte ich ihn wecken," dachte sie weiter. "Wenn er wach ist, kann er von alleine ins Bett gehen. Oder vielleicht gar weiter Schnee schippen. Obwohl das nicht wahrscheinlich ist; wenn er einmal angefangen hat zu schlafen, schläft er weiter." Weil Friederike nämlich irrtümlich annahm, Lorino sei noch immer faul und von seinem Wandel zum Fleiße nichts wußte.

Und da - schlug Lorino die Augen auf. "Wo bin ich?" - fragte er.

"Am Fuße der Treppe," antwortete Friederike, erfreut, daß sie ihn nun doch nicht wecken muß.

"Am Fuße der Treppe?" - fragte Lorino mit schwacher Stimme. "Wie komm ich an den Fuß der Treppe?"

"Das weiß ich nicht," antwortete Friederike. "Als ich kam, lagst du schon da. Vielleicht hast du dich hingelegt, um zu schlafen? So wie letzten Herbst, als du dich in das Laub bettetest; oder letzten Sommer, als du dich während des Heuwendens schlafen legtest?"

"Schlafen?" - Mit einem Ruck richtete Lorino sich auf. "Wieso sollte ich schlafen?"

"Ich meinte ja nur..." verteidigte sich Friederike.

"Nicht zum Schlafen ist der Mensch geboren!" - versetzte Lorino finster. "Wir sind auf Erden, um zu arbeiten. Nicht, um zu schlafen!" Und er sprang auf die Füße, klopfte sich den Schnee von der Kleidung; und ehe Friederike sich versah, hatte er die Schaufel ergriffen, die gleich ihm am Fuße der Treppe lag, und in grimmigem Mute machte er sich wieder an sein Werk, aus dem der Sturz ihn so jählings herausgerissen hatte.

Friederike aber zog von dannen und schüttelte in wirrem Staunen den Kopf; und ihr Staunen war so groß, daß sie nicht auf den Weg achtete, auf dem schneeglatten Untergrund ins Rutschen kam, hinfiel und, des Bewußtseins beraubt, so liegenblieb, allwie sie gefallen.





© Raymond Zoller