Die Klamurke Belletristik

Könige gestern und heute

Es war einmal ein König, der jeden Morgen, nachdem er aufgestanden war, zwölf Liegestütz machte und anschließend frühstückte.

Zum Frühstück aß er jedes Mal ein weichgekochtes Ei, oder, wenn er großen Hunger hatte, auch mal zwei, sowie ein Butterbrot mit Käse oder Wurst. Nach dem Frühstück ging er zur Arbeit; und seine Arbeit bestand darin, daß er sein Reich regierte. Um sein Reich zu regieren, mußte er sich auf den Thron setzen und dort sitzen bleiben bis Abends um sechs. Abends um sechs war Feierabend; und nach Feierabend konnte er, gleich seinen Untertanen, tun, was er wollte. Denn das ist nun schon sehr lange her; so lange ist das schon her, daß es damals noch nicht einmal Fotoapparate gab und somit auch keine Fotoreporter, die heute den Königen auch nach Feierabend hinterherlaufen und sie ununterbrochen knipsen. Da es damals solches noch nicht gab, konnten die Könige, gleich all den anderen, um sechs Uhr Feierabend machen; und auch unser König stand dann von seinem Throne auf, streckte seine Glieder, die von dem langen Sitzen ganz steif waren, und ging nach Hause.

Auch während der Arbeit wurde der König weder geknipst noch gefilmt und konnte sich deshalb ungestört den zu lösenden Problemen widmen. Wäre er gefilmt worden, während er über ein Problem nachdachte oder sich mit seinen Ministern oder anderen Königen über die Lösung eines solchen unterhielt, so hätte solches ihn sicher arg durcheinandergebracht, weil er dauernd hätte so tun müssen, als ob er nachdenkt, und weil er, während er für die Kamera so tut, als ob er nachdenkt, nicht hätte nachdenken können. Würde dieser König heute leben, wo Könige während ihrer Arbeit wie auch während ihres Privatlebens dauernd geknipst und gefilmt werden, so würde er sich zweifellos weigern, als König zu arbeiten und sich stattdessen als Installateur oder Briefträger betätigen. Denn als Installateur oder als Briefträger darf er ungestört seine Arbeit tun, und nach der Arbeit darf er ungestört ausruhen.

Heute werden dafür solche Leute König, welche mit Nachdenken etwas Probleme haben und denen es deswegen ganz recht ist, wenn sie vor Kameras so tun dürfen, als ob sie nachdenken, und die auch, weil sie im Grunde ihrer Seele selbst nicht recht wissen, wozu sie da sind, sehr froh darum sind, daß man sie dauernd knipst und filmt, weil sie dadurch die wohltuende Gewißheit erlangen, wichtige Persönlichkeiten zu sein und sich nicht so überflüssig vorkommen müssen.




© Raymond Zoller