Die Klamurke Belletristik

Goethe und kein Ende

aus den Aufzeichnungen des Johannes Krülleböck1

Nicht wenige Zeitgenossen legen Wert darauf, in ihrer früheren Verkörperung Goethe gewesen zu sein. Was keineswegs erstaunlich ist: Irgend jemand muß man ja gewesen sein; und warum nicht gleich Goethe, der immerhin auf den verschiedensten Gebieten als Koryphäe gilt und, wie es heißt, eine bedeutende Persönlichkeit war.

Wüßten aber jene Zeitgenossen, wie unbedeutend in Wahrheit dieser Goethe gewesen ist, so würden sie sich sicher anders entscheiden.

Zum Beispiel für Friedrich von der Krähenwiese.

So nämlich nannte man mich in meiner letzten Verkörperung; und in dieser meiner Verkörperung als Friedrich von der Krähenwiese war es mir vergönnt, Zeitgenosse jenes Goethe zu sein und einen Großteil jener Werke zu verfassen, die heute irrtümlich ihm, Goethe, zugeschrieben werden und für die er berühmt ist.

Wie es aber zu jener verhängnisvollen Verwechslung kommen konnte, sei nun im Nachfolgenden in aller Ausführlichkeit beschrieben.

***

Kapitel I:

Meine erste Begegnung mit Goethe

oder: Wie Goethe aus dem Brunnen stieg.

In Weimar gibt es einen Brunnen, den jeder Gebildete kennt. Denn dieser Brunnen ist berühmt, und deshalb kennt ihn jeder.

An diesem Brunnen hatte ich in meinem fünfunddreißigsten Lebensjahr meine erste Begegnung mit Johann Wolfgang Goethe.

Ich war damals sehr damit beschäftigt, meinen Faust zu schreiben und hatte wenig Zeit und Interesse für die Ereignisse und Begebenheiten, die in der Stadt um mich herum vorgingen. In jenen Tagen wurde viel von einem Possenreißer berichtet, der in der Stadt sein Unwesen trieb; ein Frauenheld und Säufer, der im Suffe die schlimmsten Streiche zustandebrachte und aufrührerische Reden führte. Gesehen hatte ich diesen Menschen noch nie und war auch nicht weiter über sein Erscheinen beunruhigt. "Meine Frau wird er wohl nicht verführen," dachte ich. "Denn es gibt viele Frauen in Weimar; und alle kann er nicht verführen." Hätte er meine Frau verführt, so wäre mir das sehr unangenehm gewesen; doch dachte ich nicht weiter darüber nach, weil es mir unwahrscheinlich schien, daß solches passieren könne. Und zudem hatte ich wirklich wichtigere Dinge zu tun, als mich über solche Nichtigkeiten zu beunruhigen.

So spazierte ich denn eines Tages gedankenverloren, die Hände auf dem Rücken, in Richtung auf jenen berühmten Weimarer Brunnen. Mit meinem Faust war ich steckengeblieben und suchte in innerem Ringen nach einem Ausweg. "Bin ich der Flüchtling nicht, der Unbehauste, der Unmensch ohne Zweck und Ruh…" hatte ich hingeschrieben; und nun fand ich nichts, was auf das "Unbehauste" reimen würde; schon seit Tagen quälte ich mich ab auf der Suche nach dem geeigneten Reime; doch nichts konnte ich finden. Solches ist nun mal der Beruf des Dichters, daß er immer wieder vor fast nicht zu lösende Aufgaben sich gestellt sieht und schier am Verzweifeln ist. In inneren Ringen um diesen Reim näherte ich mich dem Weimarer Brunnen; und wie ich die Augen hob, gewahrte ich, wie von innen her eine Hand sich über den Rand legte und wie kurz darauf ein Gesicht unter triefender und verrutschter Perücke sich über den Brunnenrand erhob.

"Das ist doch der Goethe", hörte ich einen Passanten sagen.

"Tatsächlich, der Goethe!" antwortete ein anderer. "Das sieht ihm ähnlich!"

Dem Brunnen entstieg derweil ein Mensch in völlig durchnäßter Kleidung. Er sprang hinab auf die Erde, setzte sich auf den Brunnenrand, nahm die Perücke vom Kopf und begann, sie langsam und konzentriert auszuwringen. Der Anblick dieses Menschen aber, aus dessen Kleidung das Wasser wie in Strömen herabfloß, verschaffte mir den Reim, nach dem ich so verzweifelt gesucht. Wie nach einem rettenden Strohhalm griff ich nach meinem Notizbuch und meinem Füller und schrieb, ohne stehenzubleiben, nieder: "Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste."

Wie ich aber diesen Satz niedergeschrieben hatte, da blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen: Mir war klar worden, daß ich die Fortsetzung gefunden und daß ich nun zügig an meinem Faust weiter schreiben konnte; und tiefste Dankbarkeit für diesen Unbekannten, der da genau im richtigen Momente durchnäßt dem Brunnen entstiegen, erfüllte mich. "Mein Bester..." stammelte ich. "Mein Bester... O, wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin... Sie haben mich gerettet..."

Er blickte mich erstaunt an. "Wann soll ich Sie gerettet haben?" fragte er. "Und wie? Ich bin gestern Abend, da ich zuviel getrunken, in den Brunnen gestürzt und habe, trotz redlichsten Bemühens, ihn wieder zu verlassen, dortselbst die ganze Nacht verbringen müssen; und erst jetzt ist es mir gelungen, unter Aufbietung meiner letzten Kräfte wieder ans Tageslicht zu gelangen. Ich hätte keine Gelegenheit gehabt, Sie zu retten; selbst wenn ich gewollt hätte; froh bin ich, daß ich mich selber retten konnte. Und auch vorher, bevor ich in den Brunnen gefallen bin, war immer irgendwas los, was mich davon abhielt, wen auch immer zu retten. Nein; ich glaube nicht, daß ich Sie gerettet habe. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln."

Also sprach Goethe, während er seine Perücke auswrang2.

***

Kapitel II

Mein erster Konflikt mit Goethe

oder: Wie Goethe meine Frau verführte

Wochen waren vergangen seit jenem Ereignisse. Goethe hatte ich schon wieder vergessen; woher sollte ich mir auch die Zeit nehmen, an ihn zu denken? Ich schrieb zügig an meinem Faust weiter; und zwischendurch beschäftigte ich mich mit dem Problem der Urpflanze. Wie immer tief in Gedanken versunken, schlenderte ich eines Tages in Richtung auf den bereits geschilderten Weimarer Brunnen, als plötzl3


1) Der Autor ist leider verschollen. Das wenige, was uns von seinen Aufzeichnungen erhalten blieb, deutet aber darauf hin, daß es sich um eine bedeutende Persönlichkeit gehandelt hat; aus welchem Grunde wir es hiermit veröffentlichen und in solcher Form für die Nachwelt erhalten wollen.
2) Anderen Quellen zufolge war Goethe weimarerischer Staatsminister. Nach Auffinden der Aufzeichnungen des Johannes Krülleböck wird man diese Quellen nun einer kritischen Überprüfung unterziehen müssen; es sei denn, man geht davon aus, daß er einen solchen Lebenswandel mit dem Status eines Ministers zu vereinigen wußte und daß das auch keine weiteren dienstlichen Folgen nach sich zog. Da damals noch nicht jene Einrichtung existierte, die man heute als Skandalpresse kennt, läge letzteres durchaus im Bereiche des Möglichen.
3) Ab hier ist alles verkohlt. Wahrscheinlich hat jemand das Heft in den Ofen gesteckt, oder es ist auf sonstige Weise mit Feuer in Berührung gekommen. Die Fortsetzung des angefangenen und abgebrochenen letzten Wortes lautet vermutlich "ich". Hingegen läßt sich der angefangene Satz als Ganzes, das angefangene Kapitel wie auch der Gesamttext beim besten Willen nicht mehr rekonstruieren. - Vereinzelte fragmentarische Textstellen, die über das hier veröffentlichte hinaus erhalten blieben, deuten darauf hin, daß im weiteren Verlauf Frau von der Krähenwiese mit Goethe nach Italien durchbrannte und daß Herr von der Krähenwiese den beiden nachreiste; was möglicherweise mit der auch in anderen Quellen belegten "italienischen Reise" in Zusammenhang steht.

© Raymond Zoller