Die Klamurke Belletristik

Das Erdbeben

Der Wetterbericht, gleich all den übrigen zu unserer Aufklärung und unserem Wohlergehen eingesetzten Instanzen, gibt sich redlich Mühe, uns die Wahrheit zu sagen: aus welchem Grunde wir ihm, wie auch all den übrigen Instanzen, aus ganzem Herzen und von ganzer Seele dankbar sind und Glauben schenken.

Für gestern hatte man Erdbeben vorausgesagt.

Tatsächlich schien die Erde etwas zu wackeln; aber nicht sehr. Die Scheune von Onkel Otto brach zusammen; und in der Karl-Friedrich-Straße fielen drei Blumentöpfe aus einem Fenster im elften Stock, von denen zweie je einen Passanten trafen. Sonst passierte nichts. Die Passanten wurden ins Krankenhaus gebracht, die zusammengebrochene Scheune von allen Seiten fotografiert; und mit letzterem hörte man erst auf, als Onkel Otto sagte, er wisse nichts von einem Erdbeben und habe die Scheune gesprengt, weil er den Platz braucht für ein Wohnhaus. Und auch die drei Blumentöpfe waren, wie sich herausstellte, nicht infolge eines Erdbebens heruntergefallen, sondern weil jemand sie im Suffe aus dem Fenster geworfen hatte; und da er dabei das Fenster nicht geöffnet hatte, war auch die Scheibe kaputtgegangen. Doch vielleicht hatte er nur das Erdbeben gespürt und war außer sich geraten. Sowas kann’s geben. Denn daran, daß ein Erdbeben war, zweifelt niemand; nicht nur, weil der Wetterbericht es vorausgesagt hatte, sondern auch deswegen, weil man tatsächlich gespürt hat, wie die Erde wackelte.

© Raymond Zoller