Die Klamurke Belletristik

Zwischenfliege

Der Drohbrief

Als ich gestern in meinem Sessel saß und über die Weltlage nachdachte, da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen; vor meinem inneren Sinn erstand in seiner ganzen Bedrohlichkeit der unerbittliche Ernst der Lage; und mir ward klar, daß ich einen Drohbrief schreiben muß.

Ich sprang auf und schaltete meinen Computer ein.

Ein Computer aber ist ein heimtückisches Gerät, bei dem man sehr viele Tasten drücken muß, bis er einsatzbereit ist; und wie ich denn endlich in meinem Textverarbeitungsprogramm drin war, da hatte ich vergessen, wem ich den Drohbrief schreiben wollte; und auch der Inhalt des Drohbriefs war mir entfallen.

Ich setzte mich wieder in den Sessel und dachte nach. Doch nichts fiel mir ein. Irgendwas war doch da gewesen, was ich hatte schreiben wollen? Einen Drohbrief hatte ich schreiben wollen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen. Einen Super-Drohbrief. Wohin ist das alles nun entschwunden? Einfach weg ist es. Weg. Welch schweres Schicksal, die Lösung der Probleme in der Hand gehabt zu haben und einen Moment später beschämt gestehen zu müssen, daß sie einem entfallen ist... Entfallen wie eine Münze, die unter den Schrank gerollt und nun auf Teufelkommraus nicht mehr hervorzuholen ist. Kann ich solches vor der Welt rechtfertigen? Zum Glück wird sie es nie erfahren. Man stelle sich vor, was das für eine Hetzkampagne in der Presse gäbe. Schlagzeilen wie "Verantwortungsloses Individuum vergißt die Lösung der Probleme..." Die Fenster würde man mir einschmeißen; die Reifen meines Autos durchstechen; und Drohbriefe würde ich bekommen, jeden Tag Drohbriefe, gewaltig und drohend, in denen man mir noch viel Schlimmeres ankündigen würde... Doch zum Glück wird nie jemand etwas davon erfahren; ich bleibe allein mit meinem Versagen und muß es nur vor mir alleine verantworten.

Und ich schaltete den Computer wieder aus und legte mich schlafen.

© Raymond Zoller