Die Klamurke Belletristik

Die Brücke

Kaiser Achmudi II, der auf einem Nashorn auszureiten pflegte, welches alle die, die ihn nicht ehrerbietig genug grüßten, aufspießte, kam bei einem dieser Ausritte einst an einen Fluß, über den keine Brücke führte.

Kaiser Achmudi überlegte, wie er auf die andre Seite gelangen könnte; doch wie sehr er sich auch anstrengte - nichts fiel ihm ein. Das Nashorn stand derweil abseits und fraß Gras. "Am besten, ich reite zurück in die Stadt und spieße denjenigen auf, der es versäumt hat, über den Fluß eine Brücke zu bauen," dachte Kaiser Achmudi und stieg wieder in den Sattel. Er ritt zurück in die Stadt; und unterwegs dachte er nach, wen er denn wohl wegen dieses Vergehens aufspießen sollte. Das aber war ein schwieriges Problem; fast noch schwieriger als die Frage, wie man ohne Brücke über den Fluß kommen sollte. "Hätte es eine Brücke gegeben, und wäre diese Brücke zusammengebrochen, so wäre es ein leichtes gewesen, den Schuldigen zu finden und aufzuspießen," dachte Kaiser Achmudi. "Denn wenn eine Brücke da wäre, so hätte auch jemand sie gebaut; und verantwortlich für den Einsturz wäre derjenige, der sie gebaut hat. - Doch wer ist verantwortlich dafür, daß keine Brücke gebaut wurde? Wer ist derjenige, der keine Brücke gebaut hat?" Kaiser Achmudi legte die Stirne in krause Falten, so angestrengt dachte er nach. Um ein Haar wäre er aus dem Sattel geflogen, weil das Nashorn plötzlich losgaloppierte, um jemanden aufzuspießen, der zu grüßen vergessen hatte. "Du sollst nicht alles so eng sehen," murmelte er ärgerlich. Doch das Nashorn verstand nicht und hörte erst mit Galoppieren auf, als der Schuldige aufgespießt war. - "Wer ist derjenige, der keine Brücke gebaut hat?" - griff Kaiser Achmudi den Faden wieder auf. "Wen sollte man für dieses Vergehen aufspießen?" - Wieder legte er die Stirne in krause Falten. "Eigentlich hat jeder an jener Stelle keine Brücke gebaut," dachte er weiter. "Ausnahmslos jeder. Und sogar ich selbst hab keine Brücke gebaut." - Kaiser Achmudi erschrak; doch sogleich fiel ihm der erlösende Trost ein: "Ich selber bin von den Göttern eingesetzt und folglich unfehlbar. Woraus man aber folgern muß, daß man eine Handlung oder das Unterlassen einer Handlung, daran ich beteiligt bin, keinesfalls als Vergehen bezeichnen darf, sondern im Gegenteil als in vollem Einklange stehend mit dem Willen der Götter." - Die Falten auf seiner Stirne glätteten sich. "Folglich entspringt also das Fehlen einer Brücke an jener Stelle weisem göttlichem Ratschluß und steht in vollem Einklange mit dem göttlichen Weltenplane." - Und befreit atmete er auf, weil er jetzt nicht mehr darüber nachdenken mußte, wen er wegen der fehlenden Brücke aufspießen sollte. Und wie er zurück auf sein Schloß kam, da erließ er sogleich ein Gesetz, welches für alle Zeiten verbot, an jener Stelle über den Fluß eine Brücke zu bauen.

© Raymond Zoller