Die Klamurke Belletristik

Mein Vetter Erwin und die Blumenvase

bzw.

Mein Vetter Otto und das Nashorn

Wenn alle Otto heißen würden, könnte niemand Erwin heißen.

Mein Vetter, zum Beispiel, heißt Erwin. Er ißt gerne Vanilleeis; und wenn ihm langweilig ist, fängt er Fliegen. Wenn er Otto heißen würde, würde er vielleicht lieber Bonbons essen, und statt Fliegen würde er vielleicht Fledermäuse oder Nashörner jagen.

Es ist immer leichter zu wissen, was ist, als zu wissen, wie es wäre, wenn es anders wäre. Denn das, was ist, das sieht man oder hört man oder tastet man. Dasjenige aber, was wäre, wenn es anders wäre, das kann man weder sehen noch hören noch tasten: es ist einfach nicht da.

Doch meist ist es viel interessanter, über das nachzudenken, was nicht ist, aber sein könnte, oder gar über das, was so sehr nicht ist, daß es nicht einmal sein könnte.

Zum Beispiel sitze ich jetzt in der Küche am Tisch; und auf dem Tisch steht eine Vase mit Blumen. Das sieht sehr schön aus, und die Blumen in der Vase verbreiten einen angenehmen Duft. Aber der Duft und die Vase sind da; und so gewohnt ist das alles und so normal und fast schon langweilig.

Deshalb stelle ich mir jetzt vor, was wäre, wenn es anders wäre.

Was wäre zum Beispiel, wenn statt der Vase mit den Blumen auf dem Tisch ein großes graues Nashorn stehen würde? Ein richtiges Nashorn mit einem Horn auf der Nase? Oder gar mit zwei Hörnern? Sicher wäre vieles anders. Vielleicht würde der Tisch zusammenbrechen? Denn so ein Nashorn ist viel schwerer als eine Vase mit Blumen. Und was würde meine Mutter sagen, wenn sie das Nashorn sehen würde? Meine Mutter hat große Angst vor Mäusen und springt immer auf den Tisch, wenn sie eine Maus sieht. Ob sie auch Angst hat vor Nashörnern, weiß ich nicht; aber sicher würde sie nicht auf den Tisch springen: weil da nämlich schon das Nashorn drauf steht. Ob sie vielleicht auf den Schrank klettern würde? Auf den Schrank ist sie noch nie geklettert; das sähe sicher sehr lustig aus. Und was würde meine Mutter sagen, wenn sie auf dem Schrank sitzt? Vielleicht würde sie sagen, ich soll das Nashorn aus dem Zimmer jagen? Und ich würde ihr antworten, daß ich das Nashorn nicht aus dem Zimmer jagen kann, weil die Tür zu eng ist und das Nashorn nicht hindurch kann.

Was dann weiter sein würde, weiß ich nicht. Denn es ist viel schwerer zu sagen, was sein würde, als zu sagen, was ist. Und auf dem Tisch steht kein Nashorn, sondern eine Vase mit Blumen; und meine Mutter sitzt nicht auf dem Schrank, sondern hängt draußen die Wäsche auf.

Und auch was genau wäre, wenn mein Vetter nicht Erwin heißen würde, sondern Otto, kann ich nicht sagen. Denn er heißt nicht Otto, sondern Erwin.


(Erster und einziger Text für ein vor Jahren provisorisch geplantes Deutschlehrbuch)




© Raymond Zoller