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Öffentliche Meinung

Die undurchschaute Allmacht der
Öffentlichen Meinung

[…] Wer heute das Leben verstandesmäßig, aber oberflächlich betrachtet, der kann leicht glauben, daß es in den Hauptsachen immer so gewesen ist wie heute. Es war aber nicht immer so. Und für gewisse Erscheinungen brauchen wir nur wenige Jahrhunderte zurückzugehen und werden finden, daß gewisse Dinge ganz anders waren. So gibt es heute etwas, was für des Menschen Seelenleben zwischen Geburt und Tod unendlich wichtig ist, und was in der heutigen Weise in noch gar nicht lange verflossenen Jahrhunderten nicht vorhanden war. Das ist das, was man heute in den Ausdruck der «öffentlichen Meinung» fasst. Noch im 13. Jahrhundert wäre es ein Unsinn gewesen, so von einer öffentlichen Meinung zu sprechen, wie wir das heute tun. Man spricht heute viel gegen den Autoritätsglauben. Aber heute ist der Autoritätsglaube viel drückender vorhanden, als er in den so oft geschmähten früheren Jahrhunderten vorhanden gewesen ist. Damals waren gewiss auch Mißstände zu finden; aber einen so blinden Autoritätsglauben hat es nicht gegeben. Die Blindheit des Autoritätsglaubens drückt sich ja in der Regel dadurch aus, daß die Autorität nicht zu fassen ist. Heute wird sich der Mensch sehr bald geschlagen fühlen - ob dieses oder jenes gesagt wird, aus diesen oder jenen Grundlagen -, wenn man sagt: Aber die Wissenschaft hat dieses oder jenes bewiesen. - In früheren Jahrhunderten haben die Menschen mehr gegeben auf Autoritäten, die ihnen leibhaftig entgegengetreten sind. Aber jenes nicht zu fassende Wesen, was damit gemeint wird, daß man sagt: Die Wissenschaft hat das bewiesen -, ist ein sehr fragwürdiges Ding. In dem, was damit bezeichnet wird, liegt etwas, was heute einen Autoritätsglauben begründet gegenüber einem Unfassbaren, wie er in früheren Jahrhunderten nicht vorhanden gewesen ist. Mit Dingen, von denen in einer gewissen Beziehung, das ist wirklich wahr, der einfachste, primitivste Mensch in früheren Jahrhunderten versucht hat, nach seiner Art ein wenig zu wissen, etwas zu wissen über gesundes und krankes Leben zum Beispiel, werden sich die Menschen heute, in unserer Kultur, meistens recht wenig befassen. Denn wozu braucht heute jemand etwas zu wissen über gesundes und krankes Leben? Das wissen ja die Ärzte, und denen kann man ja die Verwaltung über Gesundheit und Krankheit übertragen! Das ist auch etwas von dem, was heute in das Kapitel hineinfällt: eine unauffindbare, allergrößte Autorität. Aber was stellt sich nicht noch in das Leben zwischen uns allüberall hinein, wovon der Mensch seit frühester Jugend abhängig wird, wodurch sich Urteile, Empfindungsrichtungen in unser Leben, von frühester Jugend angefangen, hereindrängen! Dieses Herumschwirrende, diese zwischen den Menschen lebenden Strömungen bezeichnet man ja gewöhnlich als öffentliche Meinung, von der Philosophen den Satz ausgesprochen haben: Öffentliche Meinungen sind meist private Irrtümer. - Dennoch aber kommt es nicht darauf an, daß man weiß, daß öffentliche Meinungen meist private Irrtümer sind, sondern daß die öffentlichen Meinungen auf das Leben des einzelnen eine ungeheure Macht ausüben. Für das 13.Jahrhundert würde jemand die Geschichte ganz töricht betrachten, wenn er von einer öffentlichen Meinung für das Leben des einzelnen sprechen wollte. Damals gab es einzelne Persönlichkeiten; die übten allerdings eine Autorität aus in Bezug auf dieses oder jenes; denen gehorchte man, sei es in praktischen Dingen oder in Dingen der Verwaltung. Aber was die unpersönliche öffentliche Meinung heute geworden ist, das hat es damals nicht gegeben. […] Solche Dinge muß man als Realitäten ansehen. Es ist eine reale Sphäre, eine Sphäre herumschwirrender Gedanken! […]

Rudolf Steiner
GA 141 - Siebter Vortrag Berlin, 14. Januar 1913

Raymond Zoller