Die Klamurke Notizen von unterwegs

Große Deutsche

11. August 2003:

Liebe Freunde,

als weitab von den einstmals heimischen mitteleuropäischen Gefilden lebender kann man denn so seine Probleme haben, das dortselbst ablaufende Zeitgeschehen zu kapieren. – Beim heutigen Herumlesen auf einer russischen Nachrichtenseite (lenta.ru) fiel mir zum Beispiel eine Schlagzeile auf, daß es zwischen Deutschland und Österreich zu Meinungsverschiedenheiten kam, wem denn nu der Mozart gehört.

Ja nu: Der Mozart ist längst tot und kann sich nicht mehr wehren; zu seinen Lebzeiten hätten solche Streitereien vermutlich nicht aufkommen können, da es - so weit mit bekannt - ein Deutschland in der heutigen Form noch nicht gab; und selbst wenn sie aufgekommen wären, hätte er sich vermutlich verbeten, seine Person in solche Spiegelfechtereien hineinzuziehen; vielleicht unter dem Hinweis, daß er niemandem gehört und daß er sich höchstens frei mit denjenigen verbunden fühlt, die seine Musik schätzen, ganz egal wo die nun wohnen.

Ich las dann weiter und mußte feststellen, daß es bei alledem nicht bloß um den Mozart geht, sondern um noch sehr viel andere und anderes mehr, und daß das Ganze noch sehr viel verworrener ist und komplizierter und unverständlicher, als ich ursprünglich gedacht hatte. Nämlich habe man beim ZDF den Plan gefaßt, mit Hilfe der Leser herauszufinden, wer denn nu die größten Deutschen sind; zu welchem Behufe man dortselbst eine Liste aufgestellt habe, aus welcher die Leser wählen dürfen. Und nun stellte sich, laut „Lenta.ru.“ heraus, daß man eine ganze Reihe der in dieser Liste aufgeführten Personen von irgendwelchem Recht wegen gar nicht als Deutsche betrachten kann.

Mir war durchaus bewußt, daß das Leben kompliziert ist; daß es aber bis zu solchem Grade kompliziert ist, hatte ich nicht gewußt.

Doch es kommt noch komplizierter. Nämlich wurde bei Lenta aus jener Liste zitiert; und nun kapierte ich Überhaupt nichts mehr. Da waren also nebeneinander aufgeführt: Boris Becker, Berthold Brecht, Günther Grass und Claudia Schiffer. Und neugierig worden, schaute ich dann auch noch auf der ZDF-Seite vorbei; dort gab es tatsächlich eine solche Sparte; mein Blick fiel auf den mercedesfahrenden Beckenbauer; ein Weiterlesen ersparte ich mir, da ich verstand: da komm ich nicht mit; keine Chance.

Nicht gegeben ist mir, zu kapieren: was versteht man denn nu eigentlich unter Größe? Was haben Boris Becker, Berthold Brecht, Günther Grass, Claudia Schiffer und Franz Beckenbauer gemeinsam, was man als „Größe“ bezeichnen könnte?

Da hockt man denn gemütlich rum, liest Nietzsche, Goethe oder Remarque (einfach mal so dahingeschrieben; ob sie auf der Liste sind, weiß ich nicht); genießt ihre Sprache, bewegt in sich ihre Gedanken; und naiv und blauäugig und unbedarft, wie man ist, denkt man gar nicht darüber nach, was für eine Staatsbürgerschaft der Betreffende denn nu hatte und auch nicht darüber, wie man ihn denn nu vergleichen könnte mit Boris Becker oder mit Claudia Schiffer.

Und das einzige, was ich aus alledem nun kapiert habe, ist, daß das Leben wohl noch sehr viel komplizierter ist, als mir ursprünglich schien.

Aber vielleicht kann trotzdem mal jemand versuchen, mir auseinanderzusetzen: Welchen Begriff verbindet man denn nu, zum Teufel noch mal, mit diesem Wort „Größe“? Hä?

Raymond Zoller